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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung44
Ein berühmter Kritiker der Biographie in ihrer zeitgenössischen Erscheinungs-
form war Siegfried Kracauer. Sein 1930 erschienener Essay „Die Biographie als neu-
bürgerliche Kunstform“ liest sich als Abrechnung mit Biographie-Bestsellerautoren
wie Emil Ludwig.35 Mit seiner 1934 erschienenen Biographie des Komponisten Jac-
ques Offenbach, die er als „Gesellschaftsbiographie“ betitelte, wollte Kracauer eine
andere Art von Biographieschreibung darlegen. Er betonte daher im Vorwort:
„Dieses Buch gehört nicht in die Reihen jener Biographien, die sich in der Hauptsache
darauf beschränken, das Leben ihres Helden zu schildern. Solche Biographien gleichen
photographischen Porträts: die in ihnen porträtierte Gestalt erscheint vor einem ver-
schwimmenden Hintergrund. Von derartigen Werken unterscheidet sich das vorliegende
grundsätzlich. Es ist keine Privatbiographie Jacques Offenbachs. Es ist eine Gesellschafts-
biographie. Eine Gesellschaftsbiographie in dem Sinne, daß es mit der Figur Offenbachs
die der Gesellschaft erstehen läßt, die er bewegte und von der er bewegt wurde, und dabei
einen besonderen Nachdruck auf die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Offen-
bach legt.“36
Entgegen dem großen Neuerungsanspruch wirkt Kracauers Offenbach-Biographie
durchaus traditionell: Die Verbindung von Individuum und Gesellschaft wird durch
ein chronologisches Aneinanderreihen von Kapiteln, die sich einmal der Person
und einmal der Gesellschaft widmen, erzeugt. Der Anspruch, dass über „die Figur
Offenbachs die der Gesellschaft erstehe“, konnte insofern nur ansatzweise eingelöst
werden, als die beiden Stränge auf weiten Strecken parallel und unverbunden blei-
ben. Aber aus methodischer Sicht war es der Versuch, das Genre Biographie aus
seinem scheinbar festgefügten Rahmen herauszuholen.
Generell regte die Debatte rund um Individuum, Subjekt und Gesellschaft die
Auto/Biographik der 1920er- und 1930er-Jahre auch im methodisch-theoretischen
Sinne an, während die nachfolgenden von Nationalsozialismus, Krieg und Nach-
kriegszeit geprägten Jahrzehnte diesbezüglich einen Stillstand brachten. Christian
Klein und Falko Schnicke bezeichnen die Jahrzehnte bis in die 1960er als Phase der
„Konsolidierung und Re-Traditionalisierung“, in der die Auto/Biographie vielfach
für politische und ideologische Zwecke missbraucht wurde, was den biographischen
Zugang in wissenschaftlichen und intellektuellen Kreisen noch vehementer in Frage
35 Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930), in: Siegfried Kracauer
(Hg.), Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main 1963, 75–80. Erstveröffentlicht wurde
der Essay in der Frankfurter Zeitung, 29.6.1930.
36 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt am Main 1976 [EA
1937].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463