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chenden Titel zurückzuführen ist. Der Titel mag als Programm verstanden werden:
Die Biographie, und gemeint ist dabei die Vorstellung einer biographischen Kohä-
renz oder Entität, soll als Illusion, als nicht existent, als bloße Vorstellung, Imagi-
nation oder Konstruktion „enttarnt“ werden. Kritisch darf angemerkt werden, dass
es zur Entstehungszeit von Bourdieus Aufsatz im wissenschaftlichen Kontext eine
solche „Enttarnung“ vermutlich nicht mehr gebraucht hat, die Diskussion über den
konstruktivistischen Charakter von Biographien war längst im Gange.
Interessanterweise bekam die Biographie genau zu jener Zeit, als sie von Struktu-
ralismus und Konstruktivismus so stark unter Beschuss genommen wurde, gleich-
zeitig auch massiven Aufschwung, der von der neuen Strömung der „Geschichte
von unten“, der Hinwendung zur Alltags-, Arbeiter- und Frauengeschichte ausging.
Gruppen, die in der Geschichtsforschung nicht zuletzt aufgrund ihrer „Quellenlo-
sigkeit“ wenig Beachtung fanden, wurden nun zu Forschungsobjekten und mangels
anderer schriftlicher Quellen etablierten sich neue Methoden wie beispielsweise die
Oral History, in der biographische Erfahrungen im Mittelpunkt standen. Wenn-
gleich von einem anderen Erkenntnisinteresse ausgehend, führte somit die Neu-
ausrichtung der Geschichtswissenschaften in den 1970ern mit ihrem verstärkten
Interesse für eine „Geschichte von unten“ zu einer neuerlichen Fokussierung auf
die Biographie und die Selbstbiographie als historische Quelle. Anders als bis in
das beginnende 20.
Jahrhundert, als es durchgängig die Lebensläufe berühmter und
herausragender Männer gewesen waren, die als „biographiewürdig“ galten, rückten
nun andere gesellschaftliche Gruppen ins biographische und damit historische Inte-
resse. Es war nicht mehr nur der „überlegene[n] Mensch[en], der selbst an der Seele
der Zeit mitschafft“42, dessen Biographie die HistorikerInnen interessierte, vielmehr
kam es zu einem wahren Boom des Sammelns von Biographien so genannter „ge-
wöhnlicher“ Menschen. Neben der neuen Methode der Oral History waren es dabei
auch schriftliche auto/biographische Aufzeichnungen, die vermehrt gesammelt und
einer historischen Auswertung zugeführt wurden.
Auch die in den 1980ern im deutschsprachigen Raum entstandene Historische
Anthropologie interessierte sich für den Menschen in der Geschichte und nahm
seine Handlungen in den Blick. Jakob Tanner formulierte drei Grundfragen des an-
thropologischen Ansatzes in der Geschichtswissenschaft: „erstens jene nach dem
Wandel von Menschenbildern und den sich verändernden diskursiven und medi-
alen Bedingungen anthropozentrischer Selbstbeschreibungen; zweitens jene nach
den sozialen Praktiken und symbolischen Formen, durch welche die Menschen
42 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie. Bd.1: Das Altertum. 1. Hälfte, Frankfurt am Main
1949, 15.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463