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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung48
nisse merkwürdiger Männer“46 erweisen sollten, musste die schriftliche Darstellung
weiblicher Lebensläufe die Ausnahme bleiben. Anne-Kathrin Reulecke verwies in
ihrem programmatischen Beitrag zum Verhältnis von Geschlecht und Biographie
darauf, dass noch im Jahr 1993 von 367 Bänden der Rowohlt-Biographie-Reihe
„bildmonographien“ nur 24 das Leben von Frauen zum Inhalt hatten.47 Das sind 6,5
Prozent, und ein kurzer Blick auf die gegenwärtige Situation zeigt, dass sich in den
letzten beiden Jahrzehnten wenig an diesem Verhältnis geändert hat.48 Die nahelie-
gendste Erklärung für diesen Sachverhalt, dass ein solches prozentuelles Verhältnis
eine historische Realität widerspiegele (die des ebenso unterrepräsentierten Anteils
von Frauen in den Sphären öffentlichen Lebens), bezweifelt Reulecke und führt
vielmehr die These an, das Genre Biographie selbst würde zu diesem Missverhältnis
führen: „Der Ausschluss von Frauen als Gegenstand von Biographien und die mar-
ginale Bedeutung, die Frauen in den Biographien über Männer eingeräumt wird,
sind weniger Ausdruck einer außertextuellen historischen Realität; vielmehr kann
die Biographie – so meine These – als bedeutendes Medium dieses Ausschlusses
gesehen werden.“49
Diesem Ansatz kann nur bedingt zugestimmt werden, denn in dieser Bedeu-
tungsgewichtung hieße dies, die „außertextuelle historische Realität“ in Bezug auf
Geschlechterungleichheiten zu marginalisieren. Sehr wohl aber muss das Genre der
Biographie als zentrales Medium zur Fortschreibung von bestehenden Geschlech-
terdiskriminierungen analysiert werden. Es ist hinlänglich beschrieben, dass die
Grundnarrative von Auto/Biographien am Idealtypus eines männlichen Lebenslaufs
orientiert sind. Helmut Scheuer beschrieb die idealtypischen Stationen der geistes-
geschichtlichen Biographie des 19. Jahrhunderts so: In chronologischer Abfolge
in: Bernhard Fetz (Hg.), Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie, Berlin, New York 2009,
157–167, 157.
46 Misch, Geschichte der Autobiographie, 3.
47 Anne-Kathrin Reulecke, „Die Nase der Lady Hester“. Überlegungen zum Verhältnis von Biogra-
phie und Geschlechterdifferenz (1993), in: Fetz/Hemecker (Hg.), Theorie der Biographie, 319. Vgl.
dazu auch, dass im Standardwerk zur deutschsprachigen Biographie von Helmut Scheuer Biogra-
phien von etwa 90 Protagonisten angeführt sind, darunter sechs Frauen. Marian/Ní Dhúill, Biogra-
phie und Geschlecht, in: Fetz (Hg.), Biographie, 157.
48 Eine Stichprobe in Bezug auf die Neuerscheinungen der Reihe aus den Jahren 2010–2015 ergab,
dass sich von 24 in diesen Jahren erschienenen Titel vier auf Frauen bezogen (Ingeborg Bachmann,
Anne Frank, Luise von Preußen und Mutter Theresa), 20 auf Männer und zwei auf Gruppen. Der
Frauenanteil lag damit bei etwa 15 Prozent. 2017 wurde die Reihe bei Rowohlt eingestellt. Derzeit
sind noch 264 Titel lieferbar, 33 davon sind Biographien von Frauen, das sind 12,5 Prozent. Vgl.
https://www.rowohlt.de/Buecher/sachbuch/monographien (2.9.2019).
49 Reulecke, „Die Nase der Lady Hester“, 320.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463