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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung50
Verständnisses von „Biographiewürdigkeit“ konstatiert werden kann.54 Das Prob-
lem der Biographiewürdigkeit erscheint mir – verglichen mit den immer wieder
zitierten „männlich“ normierten narrativen Strukturen von Auto/Biographie – das
wesentlich bedeutendere Argument in Bezug auf den so lange herrschenden Aus-
schluss von Frauen aus den auto/biographischen Medien.
Das zeitgenössische Verständnis davon, welche Lebensläufe als biographiewür-
dig betrachtet werden, hat nicht nur einen Einfluss darauf, über wen Biographien
verfasst werden, sondern in Folge davon auch auf das Verständnis dessen, was ich
als „auto/biographiewürdig“ bezeichnen möchte. Sich selbst als „auto/biographie-
würdig“ zu betrachten, ist nicht nur eine individuelle Entscheidung oder persön-
lichkeitsabhängig, sondern korreliert mit der jeweiligen gesellschaftlichen Bewer-
tung. Dass dies auch immer eine Frage der sozialen und gesellschaftlichen (Un-)
Gleichheiten und herrschaftlichen Bedingungen ist, darauf verweist der Soziologe
Alois Hahn, wenn er formuliert: „Die soziologische Betrachtung kann schließlich
nicht übersehen, daß nicht überall und zu allen Zeiten alle Menschen die gleichen
Chancen zur Selbstfindung haben. Darf nur der König eine Biographie haben? Der
Zugang zu biographischen oder autobiographischen Thematisierungsformen folgt
oft ständischen oder herrschaftlichen Grenzlinien.“55 Wenngleich von Hahn nicht
genannt, sind diese herrschaftlichen Grenzlinien natürlich auch jene, die zwischen
den Geschlechtern gezogen wurden. Und somit darf es nicht verwundern, dass sich
mindestens bis in die 1970er-Jahre des 20. Jahrhunderts Frauen wohl nur in Aus-
nahmefällen als auto/biographiewürdig betrachteten.
Das gilt auch für Künstlerinnen. Wenngleich hier kein Repräsentativitätsan-
spruch gestellt werden kann oder soll, ist es keineswegs als Zufall zu betrachten,
dass von den für die vorliegende Studie untersuchten beiden Künstlerinnen, Erika
Giovanna Klien und Margret Bilger, keine „klassischen“ Autobiographien vorliegen,
während sich von den dargestellten männlichen Künstlern zumindest zwei, Alfred
Kubin und Oskar Kokoschka, als ambitionierte Autobiographen betätigt haben.56
54 Vgl. Hannes Schweiger, ‚Biographiewürdigkeit‘, in: Klein (Hg.), Handbuch Biographie, 32–37.
55 Alois Hahn, Identität und Selbstthematisierung, in: Alois Hahn/Volker Kapp (Hg.), Selbstthemati-
sierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987, 9–24, 17.
56 Es könnte argumentiert werden, dass bewusst zwei Künstlerinnen ohne Autobiographie gewählt
wurden. Wie schon eingangs dargestellt, ist aber vielmehr das Gegenteil der Fall – die Auswahl der
KünstlerInnen musste auf das Vorhandensein autobiographischen Materials Rücksicht nehmen,
das Vorliegen einer Autobiographie wäre somit förderlich gewesen. Vielmehr ist es so, dass für (ös-
terreichische) bildende Künstlerinnen im vorliegenden Untersuchungszeitraum nach meinem ge-
genwärtigen Forschungsstand keine (veröffentlichte) Autobiographie nachgewiesen werden kann.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463