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1.2 Künstlerauto/biographie | 53
dert formierten sich Kunsthistoriker, im deutschsprachigen Raum v.a. im Kreis der
Wiener Schule der Kunstgeschichte, die die Werkinterpretation von der Biographie
des Schöpfers zu trennen suchten.62 Spannend ist, dass gerade aus diesem Umfeld je-
nes Werk hervorging, das sich erstmals explizit mit theoretischen Fragen zu Künst-
lerbiographie, Künstlerrollen und -habitus, auseinandersetzte und das bis heute als
innovativ gelten muss: Ernst Kris’ und Otto Kurz’ „Die Legende vom Künstler“, er-
schienen 1934, nicht zuletzt durch die Exilierung der beiden Autoren aber erst Jahr-
zehnte später rezipiert.63
In der NS-Zeit zu einem ideologischen Instrument missbraucht, sah sich die Bio-
graphie nach 1945 auch in der Kunstgeschichtsschreibung einem großen Misstrauen
ausgesetzt. Strukturgeschichtliche Ansätze und der oben beschriebene linguistic turn
brachten das biographische Genre in eine Krise, die sich aber retrospektiv betrachtet
als gewinnbringend erwies. Denn auch für die Künstlerbiographie mussten neue
Formen und theoretisch-methodisch reflektierte Zugangsweisen entwickelt werden,
die letztlich zu einer neuerlichen Hochkonjunktur der Künstlerbiographik, wenn
auch in neuer Form, führten. Arbeiten wie Richard Turners „Inventing Leonardo“64
oder Svetlana Alpers „The Making of Rubens“65 drücken schon im Titel ihre dekon-
struktivistische Zugangsweise aus und zeigen sich damit konform mit anderen kul-
turwissenschaftlich geprägten Biographien der 1990er- und 2000er-Jahre, die sich
weniger „nur“ mit historischen Daten und Fakten zu den biographierten Personen
als vielmehr mit deren Performanz und Repräsentanz auseinandersetzten.66 Ebenso
wie die Auto/Biographie im Allgemeinen ging somit auch die Künstlerbiographie
durch wechselhafte Phasen, zum Erliegen kam das Genre nie und wie im Folgen-
den näher ausgeführt, fungiert(e) sie als wichtiges Instrument zur Tradierung von
biographischen Stereotypen, die sowohl Fremd- wie Selbstbild von KünstlerInnen
massiv mitkonstituier(t)en.
62 Vgl. Hellwig, Von der Vita zur Künstlerbiographie, 172 ff. Zur Wiener Schule der Kunstgeschichte
vgl. u.a. Bundesdenkmalamt Wien/Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien (Hg.), Wie-
ner Schule. Erinnerung und Perspektiven (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Bd. 53), Wien,
Köln, Weimar 2004.
63 Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main
1980 (EA im Wiener Krystall-Verlag 1934). Ausführlicher zum Werk und seinen Autoren weiter
unten.
64 A. Richard Turner, Inventing Leonardo, New York 1993.
65 Svetlana Alpers, The Making of Rubens, New Haven 1995.
66 Beispielgebend Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993 [engl.
Original: The Fabrication of Louis XIV).
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463