Seite - 62 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 62 -
Text der Seite - 62 -
| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung62
in dieselbe Traditionslinie und verfasste seine Autobiographie mit dem Titel „Aus
meinem Leben“.
So verwundert es nicht, dass gerade auf Kubin jenes biographietheoretische Mo-
dell besonders gut anwendbar ist, das Carl Pletsch aus seiner Beschäftigung mit
Nietzsche heraus entwickelte, jenes des autobiographical life. Geradezu idealtypisch
lässt sich Kubins Zugang zur eigenen Biographie nach Pletschs Modell abhandeln,
dessen Fundament einerseits in der bewussten Modellierung einer Rolle (bei Pletsch
im Konkreten die Rolle des Genies) und andererseits im Bewusstsein über das ei-
gene auto/biographische Handeln („autobiographical consciousness“) liegt. Dieses
Bewusstsein ist nicht nur ein gegenwärtiges, sondern bezieht ein posthumes Bild
ein, es geht um ein Leben „in Erwartung seiner Biographen“ („living in anticipation
of one’s biographers“).93 Pletsch zitierte als Beispiel dafür auch Sigmund Freud, der
sich in einem Brief an seine Verlobte Martha Bernays bereits in einen imaginären
Dialog mit seinen künftigen Biographen begab:
„Ein Vorhaben habe ich allerdings fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht
geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird. Da Du doch
nicht erraten wirst, was für Leute ich meine, so verrate ich Dir’s gleich: es sind meine Bio-
graphen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren u. Briefe, wissenschaftliche
Excerpte u. Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet. Von Briefen sind nur die Familien-
briefe verschont geblieben. Deine, Liebchen, waren nie in Gefahr. […] Die Biographen
aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen
Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ Recht behalten, ich freue mich schon, wie
die sich irren werden.“94
Interessant daran ist die dem Genie-Konzept entsprechende Haltung, dass Existenz
und Interesse künftiger Biographen vorausgesetzt und die eigene Biographiewür-
digkeit nicht in Frage gestellt werden. Freuds Schreiben datiert in das Jahr 1885, der
spätere Begründer der Psychoanalyse war damals ein noch unbekannter junger Arzt
von 28 Jahren, der noch keine herausragenden Forschungsleistungen nachweisen
konnte. Was Pletsch als neu am modernen Konzept des autobiographical life her-
ausgearbeitet hat, ist die Beeinflussung des autobiographischen Bewusstseins auf die
unmittelbare Lebensführung. Nicht – wie für die Vormoderne angenommen – zwei
93 Pletsch, Autobiographical Life, 415.
94 Ernest Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd.1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit
und die großen Entdeckungen 1856–1900, Bern 1960, 10 f. In engl. Übersetzung zit. in: Pletsch,
Autobiographical Life, 414.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463