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| 1 Auto/Biographieforschung –
KünstlerInnenforschung64
mente“ oder „Selbstzeugnisse“ teils synonym verwendet werden. Unklar bleibt, ob
und wie sich diese Bezeichnungen voneinander unterscheiden lassen und welche
Quellengattungen im Konkreten darunter verstanden werden können. Am ehesten
findet sich eine theoretische Auseinandersetzung dazu im Feld der Frühneuzeitfor-
schung. Hier plädierte Winfried Schulze für ein breites Verständnis biographiebezo-
gener Quellen unter der Bezeichnung „Ego-Dokumente“ und schlug dafür folgende
Zuordnung vor: „Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente be-
zeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagenpartikel vor-
liegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige
oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner
Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein
Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten
individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbe-
stände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartun-
gen widerspiegeln.“98 Einem solch weitgefasstem Verständnis von „Ego-Dokument“
kann, wie in der Einleitung skizziert, der Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit ge-
macht werden. Zur Erfassung speziell illiterater Gruppen im Bereich der Neuzeit-
forschung ist der Zugang Schulzes, „Ego-Dokumente“ in dieser Breite zu fassen, ein
gewinnbringender Weg. In der Zeitgeschichtsforschung zeigt sich allerdings eine
andere Quellensituation, und es erscheint mir daher nicht sinnvoll, den so geprägten
Begriff des „Ego-Dokuments“ dafür zu übernehmen. Ich spreche daher hier lieber
von auto/biographischen Quellen. Eine eindeutige Definition ist zwar genauso we-
nig vorhanden, ich meine aber doch, dafür einen engeren Definitionsraum ansetzen
zu können. Unter Bezugnahme auf Inhalt und Autorschaft plädiere ich für einen Zu-
gang, der unter einer „auto-bio-graphischen“ Quelle eine „auto-graphische“, somit
selbstverfasste Quelle versteht, die bewusst oder unbewusst über Lebenszusammen-
hänge des Verfassers/der Verfasserin Auskunft gibt. Auf alle gängigen und in der
Geschichtswissenschaft als Quelle am meisten verwendeten auto/biographischen
Genres wie Autobiographie, Tagebuch oder Brief trifft dies klar zu. Dieses Kernre-
pertoire an Quellen bildet die Grundlage der vorliegenden Studie, genrespezifische
Merkmale werden im Folgenden erörtert.
98 Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberle-
gungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annähe-
rung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 11–30, 28.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463