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KünstlerInnenforschung68
Auch der umfangreiche Briefwechsel Alfred Kubins setzte in seiner besonderen
Intensität erst mit dem Umzug des Künstlers aus München in die Provinz, in den
kleinen Ort Wernstein am Inn in Oberösterreich, im Jahr 1906 ein. Geographisch
isoliert hielt er mit einer allein schon im Umfang herausragenden Korrespondenz
aktiven Kontakt zu KünstlerkollegInnen und intellektuellen Zeitgenossen. Etwa
12.000 Briefe von und an Kubin befinden sich heute im Münchner Kubin-Archiv,104
zahlreiche Korrespondenzen sind in Buchpublikationen veröffentlicht.105
Korrespondieren in solchem Umfang benötigt Zeit, das Briefeschreiben war da-
her keine Nebenbei-Tätigkeit, sondern gehörte zu den zentralen Tätigkeiten des
Künstlers, die in einem sehr strukturierten Tagesablauf ihren Platz einnahm. Als
„geregeltes Zeremoniell“106 bezeichnete Otto Breicha Kubins tägliches Briefeschrei-
ben, das, wie der Künstler selbst in seinem autobiographischen Essay „Mein Tag in
Zwickledt“ festhielt, von ihm oft auch als Last empfunden wurde. So schrieb Kubin
über seinen Tagesablauf:
„Es naht sich der spannendste Moment des Tages: Der Postbote wird erwartet! Viele Jahre
lang lag dieses Amt in den Händen einer alten Frau mit langer, spitzer Nase. Als sie starb,
trauerte ich ihr nach, weil sie ihren Dienst regelmäßig versah. Sie hat wohl nie geahnt,
über welche Zauberkraft sie herrschte. Ihr Schwiegersohn hingegen, der ihr Nachfolger
war, schien zu wittern, daß er die Schlüsselgewalt über meine Abendruhe hatte; wie ein
neckisches Ungefähr ließ er es dahingestellt sein, ob er kam oder nicht (einmal blieb er
gar sechs Tage aus). […] Jetzt ist auch bei uns ein regelmäßiger, wenn auch bescheidener
Postdienst eingerichtet, und es erscheint täglich ein uniformierter Briefträger – zweckent-
sprechender, aber poesieloser! […] Die meisten Abende werden durch das leidige Brief-
schreiben geschändet, und danach ist man zu müde, um noch die rechte Freude an einem
Buch auftreiben zu können.“107
104 Vgl. Annegret Hoberg, Der Briefschreiber Alfred Kubin, in: Peter Assmann (Hg.), Kubin hand-
schriftlich, Weitra, Linz 2011, 27–45, 30.
105 An dieser Stelle nur eine Auswahl: Alfred Kubin/Stefan Zweig. Briefwechsel 1909–1937. Hg. von
Franz Hamminger/Klemens Renoldner, Schärding 2015; Alfred Kubin/Reinhard Piper, Briefwech-
sel 1907–1953. Hg. von Marcel Illetschko/Michaela Hirsch, München 2010; Hermann Hesse/Al-
fred Kubin, „Außerhalb des Tages und des Schwindels“. Briefwechsel 1928–1952. Hg. von Volker
Michels, Frankfurt am Main 2008; Margret Bilger/Alfred Kubin, Briefwechsel. Hg. von Melchior
Frommel/Franz Xaver Hofer, Schärding 1997; Fritz Herzmanovsky-Orlando, Der Briefwechsel mit
Alfred Kubin 1903 bis 1952. Hg. und kommentiert von Christian Klein, Salzburg, Wien 1983.
106 Otto Breicha, Zwischen Brief und Brief. Über den Briefwechsel zweier Künstlernaturen (und Eini-
ges zum Briefewechseln überhaupt) in: Bilger/Kubin, Briefwechsel, 105–106, 105.
107 Alfred Kubin, Mein Tag in Zwickledt (1921), in: Alfred Kubin, Aus meinem Leben. Gesammelte
Prosa mit 73 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemerschmidt, München, 1974, 87–93, 88.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463