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1.3 Auto/Biographische Quellen | 69
„Das leidige Briefschreiben“ war bei aller Last für Kubin ein zentraler Lebensin-
halt. „Leidig“ war sicherlich der Umstand, dass er Erlebnisse/Ereignisse/Gedanken
nicht einfach nur beschaulich niederschreiben und einem Briefpartner mitteilen
konnte, angesichts seiner umfangreichen Korrespondenz musste vieles auch mehr-
fach erzählt werden. So finden sich fast idente Erzählungen in Briefen an verschie-
dene Briefpartner, teils aber auch Wiederholungen in aufeinanderfolgenden Briefen,
da es für den Schreiber Kubin schwierig war, den Überblick darüber zu behalten,
an wen er was bereits geschrieben hatte. Der geradezu idealtypische Umstand im
Falle Kubins, Briefe vorliegen zu haben, die zum gleichen Zeitpunkt, aber an un-
terschiedliche Adressaten verfasst wurden, lässt die Bedeutung des Adressaten für
die quellenkritische Analyse von Briefen besonders anschaulich werden. Mit einem
Beispiel ausgedrückt: Mit seinem jüdischen Brieffreund, dem Philosophen Salomo
Friedländer-Mynona bewegte Kubin sich in einem völlig anderen diskursiven Um-
feld als mit seinem Freund, dem Anhänger des rechtsesoterischen Neutempleror-
dens, Fritz von Herzmanovsky-Orlando.108
Im lange vorherrschenden Umgang mit Briefen als historische Quelle, speziell
auch im Fall von Künstlerkorrespondenzen, wurden Aspekte wie die oben genann-
ten meist wenig berücksichtigt. Auf der Suche nach relevanten Inhalten konnten
sich Briefe, in denen das Gesuchte nicht dezidiert angesprochen war, oft als Ent-
täuschung für HistorikerInnen erweisen, während gegenwärtig auch den Leerstel-
len Interesse entgegengebracht wird. Um wieder ein Beispiel der hier analysierten
Korrespondenzen dazu anzuführen: Die Tatsache der Nicht-Erwähnung von Lie-
besbeziehungen in den Briefen Erika Giovanna Kliens an ihre Mutter liefert nicht
zuletzt einen Befund über zeitgenössische (und/oder individuelle) Mutter-Tochter-
Beziehungen. Die Einbeziehung des Adressaten und die genaue Betrachtung des
Beziehungssystems zwischen BriefschreiberIn und AdressatIn zählt somit zu jenen
relevanten Gesichtspunkten, die in der Analyse von Briefen unbedingt miteinbezo-
gen werden müssen. Fritz Fellner verwies auf fünf zentrale Faktoren der briefbezo-
genen Quellenkritik: „1. Feststellung der sozialen und geistigen Umwelt des Brief-
autors. 2. Feststellung der Intention des Autors. 3. Einsicht in das Faktum, dass jede
schriftliche Mitteilung nur die Kommunikation eines Teiles des Erlebten, Erfahre-
nen, Gedachten sein kann, dass die Umsetzung von Erlebtem und Gefühltem in
ein Schriftstück notgedrungen zu einer Verkürzung, zu einer Reduktion und damit
zur Auswahl, zur Konzentration auf Teile führen muss. 4. Einsicht in die subjektive
Perspektivität der mitgeteilten Geschehnisse oder Gedanken. 5. Einsicht in die Aus-
108 Zahlreiche Aspekte zu Alfred Kubin als Briefschreiber wurden in einem Ausstellungsprojekt des
Oberösterreichischen Landesmuseums thematisiert, vgl. Assmann (Hg.), Kubin handschriftlich.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463