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KünstlerInnenforschung70
richtung der Mitteilung auf das Interesse, das Vor- und Mitwissen des Empfängers
ebenso wie bewusstes und unterbewusstes Ausrichten der Mitteilung auf die ‚Emp-
fänglichkeit‘ des Adressaten.“109
Zeigen sich Briefe einerseits, wie beschrieben, als Möglichkeit, Kommunikation
zu nahestehenden, aber räumlich weiter entfernt lebenden Menschen aufrechtzu-
erhalten, erfüllen sie auf weiteren Ebenen noch ganz andere Funktionen, die eng
an die Merkmale autobiographischen Schreibens gebunden sind. Wie es sich für
das Schreiben in Tagebüchern oder Autobiographien aufzeigen lässt, können auch
Briefe in ihrer Funktion als Träger von Selbstfindungs- und Selbstkonstruktionspro-
zessen gelesen werden, ein Aspekt, der für HistorikerInnen erst seit einer vermehr-
ten Zuwendung zu kulturwissenschaftlichen Aspekten (cultural turn) von Bedeu-
tung wurde. Galten Briefe lange vor allem als Quellen, die es ermöglichten Einblicke
in ein „privates“ inneres Leben nehmen zu können, ein vermeintlich echtes oder
wahres Leben, lenken wir heute den Blick stärker auf die Prozesse der Selbstkonsti-
tuierung, die in autobiographischen Dokumenten virulent werden. „Letter-writing
is seen to be part of an individual’s attempt to establish the meaning of their life“,
formulierte dies Miriam Dobson.110
Dobson verwies dabei auch auf die Anstrengungen, die manche Briefschrei-
berInnen in Hinblick auf deren posthumous reputation auf die penible Aufbewah-
rung ihrer Korrespondenz legen. Dies führt wieder zu Carl Pletschs Modell vom
„autobiographischen Leben“, dem bewussten Gestalten von Nachlass und der da-
mit verbundenen posthumen Wahrnehmung. So verwundert es nicht, dass wir im
Falle des zeitlebens mit hochgradig autobiographischem Bewusstsein ausgestatteten
Künstlers Kubin ein wohlgeordnetes Archiv vorfinden, in dem sich seine umfas-
sende Korrespondenz in beeindruckender Quantität erhalten hat, während wir bei
der Korrespondenz von Margret Bilger, Erika Giovanna Klien oder Aloys Wach auf
Zufallssplitter angewiesen sind, die der Nachwelt erhalten geblieben sind. Weder
109 Fellner, Der Brief, 312. Kritisch soll hier hinzugefügt werden, dass der besondere Verweis auf die
„subjektive Perspektivität“ zeigt, dass autobiographischen Quellen auch nach dem cultural turn
immer noch der Subjektivitätsvorwurf anhaftet. Diese „Gefahr“ wird auch bei anderen, als subjek-
tive Textsorten verstandenen Quellen, wie beispielsweise dem Tagebuch, geortet. Darauf verweist
u.a. Christiane Holm in: Dies., Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänome-
nologie des Diaristischen, in: Helmut Gold/Christiane Holm/Eva Bös/Tine Nowak (Hg.), @bsolut
privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, 10–50, 11. Vgl. dazu grundlegend auch:
Volker Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum
Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung, in: Thomas Rathmann/Nikolaus
Wegmann (Hg.), „Quelle“. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion,
Berlin 2004, 102–117, 106.
110 Dobson, Letters, 60.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463