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Rückblick als Zwang („Kirche und Schule legten der kindlichen Bestie unzerreiß-
bare Zäume an“),19 nichts sei ihm so sehr verhasst gewesen wie in seiner Selbstbe-
stimmung eingeengt zu sein. Damit bediente Kubin gleich einleitend ein klassisches
Künstlerstereotyp: jenes der freiheitsliebenden, nicht konformen und sich keinen
Zwängen unterordnenden Persönlichkeit. Auch mit der darauf folgenden Erinne-
rung, als Kind Lustgefühle dabei empfunden zu haben Kleintiere zu foltern, ent-
sprach Kubin der Erwartungshaltung, dass Charakteristika seiner späteren Kunst
und Sujets bereits im Kindheitsalter angelegt gewesen seien. Dieser Linie folgte er
auch in der Beschreibung seiner kindlichen Zeichnungen: Diese hätten mit ihren
Motiven von „Zauberern, komischem und schrecklichem Viehzeug“ bereits den
„ganze[n] spätere[n] Kubin […] im Keim darin enthalten“.20 Ein tiefer Einschnitt
der Kindheit erfolgte mit dem Tod der Mutter im Jahr 1887, Alfred Kubin war zehn
Jahre alt. Das Erleben des Todes der Mutter prägte Kubin nachhaltig.
„Ich war zehn Jahre alt, als meine Mutter durch den Tod von der Schwindsucht erlöst
wurde. Sie war der erste Mensch, den ich sterben sah. Ich war zugegen, als sie die letzte
Ölung bekam, sie nahm nachher noch Abschied von meinem Vater und mir. Dieser To-
deskampf hat sich mir fest eingeprägt und wirkte stark auf mich, weit stärker aber erschrak
ich und bangte mir vor der maßlosen Verzweiflung meines Vaters; er hob die lange Leiche
der abgezehrten Frau aus dem Bett und lief damit weinend und wie um Hilfe rufend in
der ganzen Wohnung herum. Er war damals noch ein Urbild von männlicher Kraft und
Schönheit, und obwohl es bei uns oft knapp, fast ärmlich zuging, hielt ich ihn in meinen
ganzen Kinderjahren für einen reichen Mann, sicherlich aber für den klügsten der ganzen
Welt. Da er gewöhnlich von einer gemessenen Herzlichkeit war und leise sprach, stand
sein vollkommen fassungsloser Schmerz in so schroffem Gegensatz dazu, daß er mich
ängstigte.“21
Der Tod seiner Mutter veränderte Kubins Leben nach seiner eigenen Darstellung
vor allem auch insofern, als sich der Vater ihm gegenüber nun völlig verschloss und
mit aggressiver Gewalt seine eigene Verzweiflung auslebte. Die Situation verschärfte
sich, als Kubins Vater nach dem Trauerjahr die Schwester seiner verstorbenen Frau
heiratete und auch diese nach nur einem Jahr verstarb, im Kindbett nach der Ge-
burt ihres ersten Kindes. Eine „Höllenperiode“ brach auf Kubin ein und in deren
19 Kubin, Aus meinem Leben, 7.
20 Kubin, Aus meinem Leben, 10.
21 Kubin, Aus meinem Leben, 10.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463