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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 87
Beschreibung griff Kubin wieder ein wichtiges Künstlerstereotyp auf, jenes der Ein-
samkeit und Trauer als Quellen künstlerischer Inspiration:
„Mein Vater, selbst tief unglücklich und zerrissen, hatte alles Vertrauen in mich verlo-
ren. Ich durfte nicht mehr unter seine Augen kommen und mußte völlig allein leben [...]
Jetzt, wo ich bei keinem Menschen mehr Zuflucht fand, wo Christus und alle Heiligen
taub blieben, wurde ich vollständig verstockt, ließ mich mit eingezogenem Kopf schlagen
und fühlte nur Haß, Haß, Haß gegen meinen Vater und gegen alle Menschen im Her-
zen. [...] Diese Zeit vollkommenster Verlassenheit erwies sich aber als ungemein bele-
bend für meine Phantasie. Von jeher gab mir das Schwelgen in Vorstellungen urwüchsi-
ger Kraftausbrüche und Katastrophen ein merkliches Glücksempfinden, einem Rausch
vergleichbar.“22
Die Situation mit dem Vater eskalierte, als Kubin sich im Gymnasium als schwa-
cher Schüler erwies. Der Sohn wurde in Salzburg in die Staatgewerbeschule, kunst-
gewerbliche Abteilung, geschickt, wo er nach eigenen Angaben zwar besser war,
allerdings mit einer Einschränkung, bei deren Erwähnung er rückblickend kokett
mit dem Stereotyp des verkannten Talents spielte: „nur im Freihandzeichnen war
ich der Schwächste“.23 Er schloss die Schule nicht ab, sondern begann in Klagenfurt
eine Fotografenlehre bei einem Verwandten der nunmehr dritten Ehefrau des Va-
ters, ein „Fräulein aus Klagenfurt“, über die wir aus der Autobiographie sonst nicht
mehr erfahren. Die Lehre ermöglichte ein eigenständigeres Leben außerhalb des El-
ternhauses, war aber ansonsten für Kubin eher enttäuschend. Interessant ist seine
Beschreibung der Tätigkeit der Fotografie: Er beklagte, in den Lehrjahren nichts
gelernt zu haben, „obwohl das [Anm.: Herstellen einer Fotografie] doch gewiß keine
Kunst ist, sondern ein rein mechanischer Prozeß, dessen Grundzüge jeder Durch-
schnittsmensch durch Übung in vierzehn Tagen erlernen kann.“24 Der fortschritts-
und technologieskeptische Kubin reduzierte damit die Fotografie, die sich in jenen
Jahren um 1910 durchaus bereits als neue Kunstrichtung zu etablieren begonnen
hatte, auf ein reines Handwerk. Stärker fasziniert haben ihn die Landschaftsdarstel-
lungen, die er im Atelier zu sehen bekam, Bilder vom Orient, von fremden Ländern.
Zudem berichtete Kubin darüber, in jenen Jahren die Lust am Lesen und an sexuel-
len Vergnügungen entdeckt zu haben:
22 Kubin, Aus meinem Leben, 12 f.
23 Kubin, Aus meinem Leben, 14.
24 Kubin, Aus meinem Leben, 15.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463