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2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life | 95
sichtspunkten meine Lebensentwicklung hier weiter zu führen und meiner Erzählung als
in vielen Dingen aufklärend und abrundend beizugeben.“47
Das neue Kapitel sollte also nicht nur chronologisch weitererzählen, sondern auch
Ergänzungen zu den bisherigen Themen bieten. Wenn auch nicht viel Zeit seit der
letzten Fassung verstrichen war, so war in der Zwischenzeit doch mit dem Einsetzen
des Ersten Weltkrieges Wesentliches passiert. Interessanterweise stand aber nicht
der Krieg im Mittelpunkt der neuen Erzählung, sondern Kubins Auseinanderset-
zung mit Träumen und neuen Kunstbewegungen (denen er sich allen nicht zuge-
hörig fühlte). Erst nach mehreren Seiten erfolgte eine Bezugnahme auf den Krieg.
Insgesamt ist diese nur eine Seite lang, aber von starker Wortgewalt und klarem
Kriegsabscheu geprägt. Tatsächlich gehörte Kubin nicht zu der großen Zahl jener,
die 1914 in den Jubel von Kriegsbegeisterung einstimmten. Vom Kriegsdienst nach
mehrmaliger Musterung befreit bekam er wie die übrige Zivilbevölkerung den Krieg
doch unmittelbar zu spüren:
„Brutalität und Greuel griffen immer tiefer in jeden privaten Winkel. Das Essen wurde
nach und nach schlechter, allerhand Auswuchs ärger […] Einzelne Bekannte meinten,
daß diese Zustände gewiß anregend auf mich wirken müßten. Ich war aber so müde! Die
vielen Einschränkungen, die Entwertung des Geldes, alles das ließ meine Sorge nicht mehr
vergehen. Häufige Todesfälle, darunter liebe und verehrte Freunde, drückten meine Ge-
sundheit noch mehr herab. [...] Den Ausdruck ‚blutige Verluste‘ konnte ich schon gar
nicht mehr hören.“48
Besonders traf Kubin der Tod seines Künstlerkollegen Franz Marc. Die Nachricht
über dessen „Schlachtentod“ gemeinsam mit einer weiteren Todesnachricht sollte –
so Kubins autobiographische Darstellung – jene schwere Krise auslösen, die im drit-
ten Kapitel der Selbstbiographie am meisten Raum einnimmt: Kubins so genannte
„buddhistische Krise“ im Frühjahr 1916. Angegriffen von den oben genannten To-
desnachrichten hatte er das „sehr eindringlich abgefaßte Werk über die Lehre Bud-
dhas von Georg Grimm“49 gelesen und war darüber in eine intensive Krisenphase
gefallen:
47 Kubin, Aus meinem Leben, 44.
48 Kubin, Aus meinem Leben, 51.
49 Kubin, Aus meinem Leben, 54. Gemeint ist das Buch: Georg Grimm, Die Lehre des Buddha, die
Religion der Vernunft, München 1915.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463