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tionen verwendet wurde und wird.99 In der folgenden Analyse von „Mein Leben“ soll
es daher vor allem um die verwendeten Narrative, künstlerbiographischen Formeln
und die generelle Tendenz der autobiographischen Strategie des Künstlers gehen.
Ich beziehe mich dabei auf die publizierte Fassung, nur gelegentlich werden Verglei-
che mit den vorliegenden früheren Fassungen vorgenommen werden.
„Mein Leben“ weist zunächst einen klassischen Aufbau auf, der mit der Kindheit
des Künstlers beginnt und die verschiedenen Etappen des Lebens, chronologisch
und in der Gliederung meist an Orte gebunden, durchläuft. Das erste Kapitel lautet
„Kindheit und Schule“. Die üblichen Daten zur Geburt (wann und wo) sucht man
aber vergeblich, stattdessen zeigen schon die ersten Absätze, dass Kokoschka nicht
nur Lebensdaten vermitteln, sondern vielmehr seine im Lauf der Zeit gewonnenen
Lebensanschauungen weitergeben möchte. So heißt es gleich zu Beginn:
„Also sehen wir zu, wie es begonnen hat. Wie bin ich Mensch geworden? Denn man ist
nicht Mensch damit, daß man geboren ist. Mensch muß man mit jedem Augenblick von
neuem werden. Dies, so glaube ich, sagte Herder.“100
Schon in den ersten Absätzen der Autobiographie verwies Kokoschka auf die grund-
legende Erfahrung seiner Kindheit, die Welt visuell wahrgenommen zu haben.
Zweifellos nahm er damit auch eine der „biographischen Formeln“ (Kris/Kurz) der
Künstlerbiographie auf, nach der die künstlerische Anlage bereits in der Kindheit
wahrzunehmen sei:
„Meine ersten Kindheitseindrücke sind rein visuell. [...] Das Kennenlernen der Welt be-
steht im Erlebnis des Raumes. Meine entscheidende Entdeckung der Kindheit war: Die
99 Vgl. dazu auch Werner Schweiger, der bereits 1986 feststellte: „Kokoschkas Autobiographie – 1971
unter dem Titel ‚Mein Leben‘ erschienen – ist zwar als Entwicklungsgeschichte interessant zu lesen
und sehr lehrreich, der Großteil der darin enthaltenen Fakten und Daten – die Frühzeit betref-
fend – ist aber ungenau bis falsch. Es ist keine Besonderheit – und daher auch nicht auf OK zu
beschränken – wenn Künstler ihre eigene Biographie mystifizieren und bewußte Legendenbildung
betreiben, aber: bei Kokoschka setzte diese Selbststilisierung schon sehr früh ein, und bereits die
erste Kokoschka-Monographie von Paul Westheim aus dem Jahre 1918 – die, was die äußeren
Daten betrifft, auf Kokoschkas Aussagen beruht – ist voller Ungenauigkeiten – und das nicht ein-
mal zehn Jahre nach dem Debüt des Künstlers.“ Werner
J. Schweiger, Zwischen Anerkennung und
Verteufelung. Zur Rezeptionsgeschichte von Kokoschkas Frühwerk. in: Erika Patka (Hg.), Oskar
Kokoschka. Symposion, abgehalten von der Hochschule für angewandte Kunst in Wien anlässlich
des 100. Geburtstages des Künstlers, Salzburg, Wien 1986, 114–126, 114.
100 Kokoschka, Mein Leben, 31.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463