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graphie auf ein für ihn lebensprägendes Geschenk, das er von diesem erhalten habe,
den Bildband „Orbis pictus“ von Jan Comenius.105 Dieses Buch mit seinen bildhaften
Darstellungen entsprach dem visuellen Bedürfnis des Knaben und in späteren Jah-
ren sollte sich Kokoschka für das pädagogische Konzept des tschechischen Refor-
mers intensiv engagieren. Das Kindheitskapitel beendete Kokoschka schließlich mit
einem nostalgischen Rückblick auf das alte k. u. k. Österreich.106
Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Studien“ finden sich die Erinnerungen an die
Ausbildungszeit an der Wiener Kunstgewerbeschule. Für Kokoschka stellte diese das
fortschrittliche Pendant zur konservativen Akademie der bildenden Künste dar, an
der ein Studium für ihn nicht in Frage gekommen sei.107 Ganz klar positionierte
sich Kokoschka auf der Seite der Fortschrittlichen, vor allem hinsichtlich der Be-
fürwortung der an der Kunstgewerbeschule gepflegten Aufhebung der Grenze zwi-
schen „reiner“ und angewandter Kunst und der internationalen Orientierung.108
Aber selbst innerhalb dieses bereits fortschrittlichen Bezugssystems reklamierte Ko-
koschka in seiner autobiographischen Konstruktion eine nochmalige Sonderrolle.
So berichtete er vom Aktzeichenkurs folgende Begebenheit:
„Wir hatten einen alten Mann als Modell, nackt bis auf den gewissen Lendenschurz. [...]
Das Modell sollte lebensgroß und ganz genau mit Kohle gezeichnet werden. Als der Neu-
hinzugekommene hatte ich meinen Platz ganz hinten und sah von meinem Standpunkt
den alten Mann nur in Verkleinerung. So klein, wie ich ihn sah, gab ich ihn auf meiner
Riesentafel wieder. Professor von Kenner sagte: ‚Was fällt Ihnen da ein? Warum zeichnen
Sie das Modell nicht lebensgroß wie alle anderen?‘ Zufällig war Professor Czeschka her-
eingekommen, ihm zeigte ich, was ich sehen konnte, und nahm ihn als Zeugen. ‚Herr Pro-
fessor, von meinem Platz aus können selbst Sie den Mann nicht größer sehen!‘ Er lachte
105 Johann Amos Comenius, Joh. Amos Comenii Orbis Sensualium Pictus, Nürnberg 1682. Seit seiner
ersten latein-deutsch verfassten Ausgabe von 1658 erschien das Buch in zahlreichen Neuauflagen
und Sprachen. In bildlexikalischer Form bietet es einen Überblick über die Welt, die Bereiche zwi-
schen Himmel und Erde, von Gott über die Menschen zu den verschiedenen Arten von Tieren, von
den belebten und unbelebten Formen der Natur bis hin zu Darstellungen menschlicher Praktiken.
106 Kokoschka, Mein Leben, 45.
107 Kokoschka, Mein Leben, 47.
108 Kokoschkas eigene Begründung für die Wahl seines Ausbildungsortes ist damit eine andere – und
aus meiner Sicht überzeugendere – als sie von Carl Schorske gegeben wurde: Dieser bezeichnete
Kokoschkas Entscheidung für die Kunstgewerbeschule als „Bescheidenheit bei der Berufswahl“,
indem sich Kokoschka damit für den weniger angesehenen Weg als Kunsthandwerker entschieden
habe. Vgl. Schorske, Wien, 324.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463