Seite - 115 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 115
und sagte: ‚Sie wollen wohl in Alleinhaft sein?‘ und gab mir einen winzigen Atelierraum
für mich allein, meine Einzelhaftzelle.“109
Nicht zu sein wie die anderen, sich abheben – das kennzeichnet diese anekdotische
Erzählung. Während der konservative Lehrer die Nichtkonformität naturgemäß ta-
deln musste, erkannte der andere – so das Narrativ – genau darin die Begabung des
Schülers und würdigte diese. In der starken Betonung des gegen alle Widerstände
Eigenständigen und Originellen finden sich Ansätze dessen, was Edgar Zilsel dem
modernen Genietypus zuschrieb, der zwar in der Verehrung seiner Genie-Vorbilder
lebe, diese aber niemals nachahmen, sondern durch Individualität und Originalität
gleichsam überwinden müsse.110
Das autobiographische Kapitel zur Studienzeit endet mit Erzählungen zu den
ersten Werken, mit denen Kokoschka öffentliche Aufmerksamkeit erlangte und die
sein Image als Kunstrebell begründeten: der Graphikzyklus „Die träumenden Kna-
ben“ und das Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen“. Im Falle von „Die träumenden
Knaben“ führte – so die Eigendarstellung – die widerständige Interpretation eines
Auftrags zum Erfolg, indem er anstelle eines gewünschten Kinderbuches „eine Art
Bericht in Wort und Bild über meinen damaligen Seelenzustand“111 anfertigte. Im
Mittelpunkt des Zyklus „Die träumenden Knaben“ stand die Liebe zum Mädchen Li.
Über ihre Identität berichtete Kokoschka in der Autobiographie Folgendes:
„Die Heldin der Dichtung, das Mädchen Li ‚aus den verlorenen Vogelwäldern des Nor-
dens‘, war eine junge Schwedin, die Lind hieß. Sie ging gleichfalls in die Kunstgewerbe-
schule und trug einen roten, von Bauernhänden gewebten Rock, wie man ihn in Wien
nicht gewöhnt war. Rot ist meine Lieblingsfarbe. Ich war in das Mädchen verliebt. Das
Buch ist mein erster Liebesbrief gewesen, doch war sie bereits aus meinem Lebenskreis
verschwunden, als das Buch erschien.“112
Aus anderen Quellen ist bekannt, dass das Mädchen Li keine Schwedin namens
Lind, sondern Lilith Lang, Kokoschkas Studienkollegin und Schwester seines engen
109 Kokoschka, Mein Leben, 49.
110 Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit
einer historischen Begründung. Hg. u. eingeleitet von Johann Dvorak, Frankfurt am Main 1990
[EA 1918], 59.
111 Kokoschka, Mein Leben, 50.
112 Kokoschka, Mein Leben, 50.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463