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Freundes Erwin Lang, darstellte.113 Warum Kokoschka nach so vielen Jahren die
Identität des Vorbilds für das Mädchen Li verschleierte, ist trotz seiner bekannten
Lust am „Jonglieren“ mit Daten nicht ganz nachvollziehbar. Vielleicht gab es die
schwedische Studentin, und sie wurde mit Lilith Lang zu einem Wesen zusammen-
geformt, ein Phänomen, das beim autobiographischen Erinnern generell bekannt
ist, von Oskar Kokoschka aber geradezu kultiviert wurde. Dass sich Erinnerungen
bei mehrmaligem Erzählen verändern, liegt aber nicht nur an der bewusst eingesetz-
ten „Phantasie“ des Erzählers, sondern auch am Prozess des Erinnerns selbst, indem
bei jedem Abruf einer Erinnerung diese neu „überschrieben“ wird. Generell lassen
sich in Kokoschkas Autobiographie viele Prozesse nachweisen, die in jüngeren, von
der neurologischen Forschung inspirierten kulturwissenschaftlichen Erinnerungs-
und Gedächtniskonzepten beschrieben werden, wie beispielsweise die Übernahme
von gehörten oder angelesenen Ereignissen in die eigene Erinnerung.114
Nach den „träumenden Knaben“ ging Kokoschka zum Drama „Mörder, Hoff-
nung der Frauen“ und dessen Aufführung bei der Wiener Kunstschau 1909 über.
Zum Inhalt des Stückes in Bezug auf zeitgenössische Geschlechterdiskurse wird an
späterer Stelle noch intensiv eingegangen, hier soll lediglich der Aspekt themati-
siert werden, wie sich Kokoschka autobiographisch in diesem Zusammenhang zum
Kunstrebellen und Ausgestoßenen stilisierte und zudem seine Rolle als Pionier des
expressionistischen Dramas bekräftigte:
„Meine Stücke gelten heute als Piloten des Expressionismus, wie gewisse kleine Fische
als Vorhut von Walfischen genannt werden. Ich kann über mein Stück nur soviel sagen:
Es hat trotz aller gelehrten Referate nichts mit einer Absage an die Gesellschaft oder mit
irgendwelchen Weltverbesserungsplänen zu tun, wie sie dem literarischen Umbruch und
Stilwandel eigen sind, den man Expressionismus nennt. Mein Stück ist kein Lehrstück im
Sinne des Theaters als moralische Anstalt, es drückt bloß meine Einstellung zu meiner
Welt aus.“115
Diese Darstellung vermittelt den Eindruck, als wäre es fast gegen Kokoschkas Wil-
len oder zumindest ohne sein Zutun geschehen, dass seine Stücke als „Piloten des
113 Vgl. dazu Alfred Weidinger, Oskar Kokoschka. Träumender Knabe – Enfant terrible, in: Agnes
Husslein-Arco/Alfred Weidinger (Hg.), Kokoschka. Träumender Knabe – Enfant terrible, Weitra
2008, 7–293, 93 f sowie Heinz Spielmann, Oskar Kokoschka. Leben und Werk, Köln 2003, 42.
114 Vgl. dazu u.a. die Studien von Aleida Assmann und Harald Welzer, konkret sei hier verwiesen auf
Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2008,
185 ff.
115 Kokoschka, Mein Leben, 64.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463