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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 117
Expressionismus“ gelten. Dies steht im krassen Gegensatz zu nachweisbaren Bemü-
hungen Kokoschkas, die Abfassung des Stücks bewusst vorzudatieren. Tatsächlich
hatte Oskar Kokoschka in der 1916 publizierten Fassung des Dramas das Jahr 1907
als Entstehungsdatum angegeben, mit nachhaltiger Wirkung: 1929 übernahm die
Encyclopaedia Britannica diese Angabe in einem Eintrag zum Künstler und erklärte
ihn damit zu einem der frühesten expressionistischen Dramatiker. Die jüngere For-
schung geht klar davon aus, dass das Drama erst im Aufführungsjahr 1909 verfasst
wurde, wie auch schon die Biographin Edith Hoffmann festhalten wollte. Kokoschka
hatte ihr in einem Brief mitgeteilt, das Stück wäre „1907 im Kunstschautheater auf-
geführt“ worden. Hoffmann wies auf den Fehler hin und wollte das Aufführungs-
datum mit 1909 korrekt wiedergeben sowie auch auf Einflüsse Strindbergs hinwei-
sen.116 Kokoschka war empört und wies die junge Kunsthistorikerin zurecht:
„Am Ende wird wegen Deiner Einflussriecherei die Encyclopaedia Britannica mich ganz
auslassen zur Strafe für Deine Beckmesserei.“117
In der Autobiographie findet sich kein Hinweis auf das Datum der Abfassung des
Dramas, die Aufführung wurde mit 1909 korrekt angegeben. Unabhängig von der
Datierungsfrage ging Kokoschka in der autobiographischen Rückschau ausführlich
auf die Skandal-Rezeption des Stückes ein:
„Der Wiener Pressesturm, der nach meiner Theatervorstellung einsetzte, hat noch die
schmähenden Kritiken über meine Malereien im sogenannten Prangerkabinett von 1908
überboten. ‚Degenerierter Künstler‘, ‚Bürgerschreck‘, ‚Jugendverderber‘, ‚Zuchthaus-
pflanze‘ nannte man mich; in den Tageszeitungen wurden Ausdrücke gebraucht, die spä-
ter in der Hitlerzeit üblich waren.“118
Mittlerweile konnte über eine Analyse der zeitgenössischen Rezensionen zur Auf-
führung nachgewiesen werden, dass Kokoschkas Darstellung des Skandals zu-
mindest übertrieben war,119 wenngleich sein Ruf als Kunstrebell damals zweifellos
gefestigt wurde. Abschließend führte Kokoschka noch aus, dass der Direktor der
Kunstgewerbeschule, Alfred Roller, als Reaktion auf das Stück ein Telegramm vom
Unterrichtsminister bekommen habe, wonach Kokoschka der Schule verwiesen
116 Vgl. Bonnefoit, Kunsthistoriker vom Künstler zensiert, 179.
117 ZBZ, NL O. Kokoschka, Karton 632, Fasz. 632.1.2, fol. 11, erstmals zit. in: Bonnefoit, Kunsthistori-
ker vom Künstler zensiert, 179.
118 Kokoschka, Mein Leben, 64.
119 Vgl. Weidinger, Träumender Knabe, 150 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463