Seite - 119 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 119
Panik“ plötzlich „gottverlassen“ gefühlt habe, dann aber doch von einem Eupho-
riegefühl erfasst worden sei, dass ihm die Welt nun offenstehe. In München port-
rätierte er Gustav Meyrink, der als Verfasser okkulter Romane und Erzählungen in
Künstlerkreisen sehr prominent war – auch Alfred Kubin und Aloys Wach standen
mit Meyrink in Kontakt. Obwohl Kokoschka in der Autobiographie gelegentlich auf
seine eigene Fähigkeit zur Hellsicht anspielte, schien ihm der zeitgenössische eso-
terische Diskurs weniger wichtig gewesen zu sein als den beiden Künstlerkollegen.
Autobiographisch rückblickend meinte er über Meyrink:
„Ich hatte eine Empfehlung an Gustav Meyrink, ihn zu malen: den Verfasser von satani-
schen Geschichten, die mich belustigten. Seltsam, einen reifen Mann mit okkulten Din-
gen, indischen Geheimlehren und Selbsthypnose sich beschäftigen zu sehen in einer Stadt,
die nach dem Sieg von 1870 zum Walhall der Bierbrauer geworden war! Ich habe von dem
Athen der Künstler an der Isar damals nicht viel bemerkt.“125
München war nur Zwischenstation, auf der Suche nach sich selbst führte der Weg
weiter.
„Vielleicht war München noch nicht weit genug weg von Wien. [...] Ich wünschte, ein
Mann zu werden und daß die melodramatische Geschichte meiner Jugend, deren einziger
Interessierter ich allein war, zu Ende ginge, damit ich mir einmal über mich selber klar-
werden konnte. Noch suchte ich mich. [...] Konfrontation mit neuen Menschen war nötig.
Ich dachte an Berlin.“126
Die Zeit, in der er von Wien über München schließlich nach Berlin ging, beschrieb
Kokoschka als Phase der Selbstsuche, als Wanderjahre des jungen Künstlers. In Ber-
lin war für Kokoschka Herwarth Walden und seine Zeitschrift „Der Sturm“ die erste
Anlaufstelle. Kokoschka kannte Walden über Karl Kraus bereits aus Wien, in Berlin
sollte er nun ein Jahr mit Walden zusammenarbeiten und -leben, „das Sturmjahr
1910“,127 wie er es rückblickend bezeichnete. Es gelang ihm, wichtige Kontakte zu
knüpfen, am bedeutendsten war jener zu Paul Cassirer. Der einflussreiche deutsche
Verleger und Galerist nahm Kokoschka in ein Vertragsverhältnis, womit dieser erst-
mals in seiner Karriere existentiell abgesichert war. In der autobiographischen Dar-
stellung war es Kokoschka wichtig darauf hinzuweisen, dass der Vertrag mit keiner
125 Kokoschka, Mein Leben, 99.
126 Kokoschka, Mein Leben, 99.
127 Kokoschka, Mein Leben, 105.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463