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Bemerkungen und Einschätzungen zur Beziehung mit Alma Mahler wechseln ein-
ander ab mit davon abschweifenden Erinnerungen, Ereignisse werden angedeutet,
aber meist nicht näher ausgeführt. So zum Beispiel der Schwangerschaftsabbruch,
den Alma Mahler während ihrer gemeinsamen Beziehung durchführen ließ:134
„Warum mein Verhältnis bereits vor dem Krieg zu Ende gegangen ist, daran war diese
Operation in der Klinik in Wien schuld, die ich Alma Mahler nicht verzeihen wollte. Man
darf aus Lässigkeit das Werden eines Lebewesens nicht absichtlich verhindern. Es war ein
Eingriff auch in meine Entwicklung, das ist doch einleuchtend.“135
Die Abtreibung wird in der Autobiographie – direkt und indirekt – noch an weiteren
Stellen angesprochen: So erläuterte Kokoschka ein Erlebnis, das ihn sehr verstört
und das er im Nachhinein als schlechtes Omen gedeutet habe. In der Nähe des Hau-
ses am Semmering, das Alma für sich und Kokoschka bauen ließ, waren paarende
Lurche und Kokoschka wollte keinesfalls, dass die schwangere Alma diese sehe.136
Auch eine andere Erinnerung, in der es um seine Eifersucht gegenüber dem ihm
allmächtig erscheinenden toten Gustav Mahler ging, interpretierte er in Bezug auf
den Schwangerschaftsabbruch:
„Ich hatte immer, weil ich abergläubisch bin, darauf bestanden, daß vom toten Gustav
Mahler nichts, nicht einmal seine Büste von Rodin, in jenes Haus gebracht und dort auf-
gestellt werden dürfte. Fast fürchtete ich, daß durch irgendwelche Magie das Kind, das sie
trug, die Züge des Toten haben könnte, von dem sie nun öfter, als mir lieb war, sprach.
Besonders streng hatte ich verboten, daß die Totenmaske ins Haus gebracht würde, deren
Sendung per Post schon avisiert war. Bereits einige Male hatte das zu sehr unangenehmen
Auseinandersetzungen geführt, bis in der Tat eines Tages im Haus am Semmering eine
Kiste abgestellt wurde, aus welcher sie die in einem Ballen von Holzwolle eingewickelte
Maske hervorzog. Vielleicht hatte das mehr als alles andere die Entscheidung gebracht.
Der Gesellschaftstratsch und die guten Ratschläge der Freunde hatten nur mitgeholfen,
134 Vgl. dazu auch ZBZ, NL O. Kokoschka, Karton 272, Fasz. 272.4, Tagebuch Alma Mahler: „Aus der
Zeit meiner Liebe zu Oskar Kokoschka und der Seinen zu mir, 1913“.
135 Kokoschka, Mein Leben, 127.
136 Nicht von Kokoschka erwähnt wird folgender Hintergrund: Die Lurche stammten von Paul Kam-
merer (1880–1926), einem Freund Alma Mahlers, den sie in seiner Forschungsarbeit als Biologe
unterstützte. Das fragile Beziehungsnetz zwischen Kammerer, der ebenfalls in Alma Mahler ver-
liebt war, Alma Mahler und Oskar Kokoschka bildet die Grundlage für den Roman von Julya Ra-
binowich, Krötenliebe, München 2016. Vgl. auch Klaus Taschwer, Der Fall Paul Kammerer. Das
abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit, München 2016.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463