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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 133
Kokoschka wollte seine politischen Bilder als Ausdruck eines individuellen En-
gagements gegen den Krieg und für Menschlichkeit sehen, nicht aber als Teil einer
wie immer gearteten politischen Bewegung. Auch hier positionierte er sich in der
Autobiographie als bedingungsloser Individualist. Dieses Selbstverständnis machte
er an späterer Stelle nochmals deutlich:
„Ich unterschied mich von den Verfassern kommunistischer Agitation, weil ich mich
nicht mit einer Ideologie an die Masse, sondern lediglich an das menschliche Gewissen
wandte. Ich war eine Art ‚one man underground movement‘.“178
Nicht nur durch seine Gemälde, auch über andere Kanäle wollte Kokoschka – ähn-
lich wie bei seiner Plakataktion in Dresden – individuelle politische Zeichen setzen,
vor allem mit dem Aufsatz „Bittschrift eines ausländischen Künstlers an das gerechte
Volk von Großbritannien um einen sicheren und gegenwärtigen Frieden“ und mit
der Plakataktion „In Memory of the Children of Europe who have to die of Cold and
Hunger this Xmas“.179
Kokoschka blieb nach Kriegsende in London und suchte um die britische Staats-
bürgerschaft an, die er 1947 erhielt. Der englische Pass erleichterte die Reisemög-
lichkeiten, seine Zukunft sah Kokoschka auch nach dem Ende des Krieges und der
NS-Ära nicht in Österreich:
„Ich nahm also den britischen Paß an, denn ich sah keine Zukunft für mich in Österreich,
das nun von den Russen, Amerikanern, Engländern und Franzosen besetzt blieb. Sie alle
vier halfen, jede Nation nach ihrer Art, dieses Restland der Monarchie zu befreien. Mit
meinem neuen Paß konnte ich nun wieder reisen, wohin ich wollte.“180
Er schilderte noch die erste Begegnung mit der Schwester in Prag und dem Bruder
in Wien. Über die russischen Besatzer in Wien gab es ein abschätziges Urteil, das
allerdings nicht auf eigenem Erleben beruhte, sondern Gehörtes oder Angelesenes
wiedergab – wie häufig in den allgemeinhistorischen Betrachtungen dieser Auto-
biographie:
„Nachher sollen besonders die russischen Truppen, Kalmücken und Tataren, wilde Völ-
ker, denen man den von ihnen besetzten Teil Wiens preisgegeben hatte wie einst im Drei-
178 Kokoschka, Mein Leben, 256.
179 Kokoschka, Mein Leben, 255 f.
180 Kokoschka, Mein Leben, 256 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463