Seite - 135 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ | 135
ausgerüsteten jetzigen Hippies, deren zerbrochene Rauschgiftphiolen die Ruinen der Ak-
ropolis unsauber machen.“184
Resümierend
Als Autobiograph hinterlässt Kokoschka ein ambivalentes Bild. „Mein Leben“ lässt
zwar in zahlreichen Episoden, die teils schon in viel früheren Jahren erstmals er-
zählt und aufgeschrieben worden sind, viel vom erzählerischen Esprit des Künstlers
erahnen, gibt direkte wie indirekte Einblicke in seine Künstlerbiographie und weist
interessante Bezüge zu klassischen künstlerbiographischen Narrativen auf, leidet
andererseits aber an Schwächen, die vor allem aus dem bereits skizzierten Entste-
hungskontext herrühren. Dadurch dass es keinen klaren zeitlichen point of view gibt
und der Text eine Montage aus verschriftlichten Interviewgesprächen und älteren
teils schon edierten Erzählungen darstellt, ist es schwierig eine autobiographische
Strategie des Künstlers herauszulesen. Am dominantesten ist sicherlich das Narra-
tiv des in jeder Hinsicht freiheitsliebenden und unbeeinflussten Künstlers. Dieses
Narrativ durchdringt auch das Bild, das Kokoschka in Hinblick auf sein politisches
Bewusstseins und Handeln vermittelte. Auch dieses wollte er als unbedingt indi-
viduell und keiner politischen Bewegung verpflichtet verstanden wissen. In Bezug
auf Künstlerstereotype, wie sie von Ernst Kris und Otto Kurz beschrieben wurden,
lassen sich damit vor allem zwei Motive besonders deutlich finden: 1. das Bild des
unbedingt und kompromisslos nach Freiheit und Individualität strebenden Künst-
lers, der sich jenseits jeglichen bürgerlichen „Mainstreams“ positioniert und 2. der
Typus des von der gegenwärtigen Gesellschaft „unverstandenen Künstlergenies“.
Auch hinsichtlich des Modells vom autobiographical life, wie es Carl Pletsch de-
finierte, lässt sich bei Kokoschka viel Übereinstimmung finden. Er besaß bereits
in jungen Jahren Biographiebewusstsein in dem Sinne, dass ihm klar war, dass er
als Künstler auch biographisch in die Öffentlichkeit treten muss, um Anerkennung
und Berühmtheit zu erlangen. Ähnlich wie Kubin lebte er dabei nicht nur „in Er-
wartung“ künftiger Biographen, sondern war aktiv um solche bemüht, wie es die
Vorgangsweise rund um Edith Hoffmanns Kokoschka-Biographie aus den 1940er-
Jahren zeigt. Die intensive Einflussnahme, die er dabei auf die Biographin ausübte,
zeigt deutlich, dass er die Ausformulierung des biographischen Narrativs nicht ab-
geben, sondern selber in der Hand behalten wollte. Auch die Entstehungshinter-
gründe der Autobiographie von 1971 verweisen auf eine ähnliche Konstellation, in
184 Kokoschka, Mein Leben, 297.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463