Seite - 142 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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nächst sehr kurz ausfällt, in einem späteren Eintrag wird er nochmals ausführlicher
darauf zurückkommen. Zunächst erfolgte lediglich eine knappe und ambivalente
Bewertung dieser zweifellos prägenden Lebensphase des Künstlers: Einerseits habe
er in Paris „gelernt zu sein wie ich bin und so zu zeichnen“. Andererseits sei „man“
„unter dem Suggestionswort modern“ gewesen – „und das war entsetzlich“.201 Mit
der Verwendung des kollektiven „man“ versuchte Wach seine „Verirrung“ als eine
allgemeine der Zeit einzuordnen. Die Bedeutung jener Lebensphase für seine Selbst-
findung sprach ihr Wach allerdings nicht ab. Nach einigen Überlegungen zu Fragen
der Religiosität endet Wachs erster „biographischer“ Tagebucheintrag.
Er setzte am nächsten Tag fort, wobei ihn gleich zu Beginn offenbar fundamentale
Zweifel hinsichtlich seines Tuns befielen: „Meine Niederschrift wird ihren Zweck
verfehlen: was ich fixiere, sind philosophische Fragmente, kein Lebensbild, das ich
festhalten soll.“202 Wach hatte somit eine klare Vorstellung seines „Auftrags“ vor Au-
gen, nämlich ein möglichst kohärentes Lebensbild, eine biographische Niederschrift
nach klassischen Kriterien zu verfassen. Zumindest in den nächsten Abschnitten be-
mühte er sich, diesem Idealbild wieder näherzukommen, er setzte die Lebenserzäh-
lung allerdings nicht dort fort, wo er am Vortag endete, sondern begann nochmals
vorne bei der Kindheit, mit Gedanken, die seine bisherigen Erzählungen ergänzten,
die Schul- und Ausbildungsjahre wurden diesmal ausführlicher dargestellt. In die-
ser Darstellung lässt sich wieder eine der „biographischen Formeln“ (Kris/Kurz) der
Künstlerbiographik erkennen: Es geht um die Widerstände, die dem jugendlichen
Talent auf seinem Weg zum Künstlerberuf entgegengebracht werden. Wach schil-
derte eindringlich die Erwartung der Familie, den Kaufmannsberuf zu erlernen („Es
ist grotesk: ich und Kaufmann!“) und die erste Zurückweisung der Münchner Aka-
demie, die ihn als untalentiert abqualifiziert habe. Er führte die Erzählung aus bis
zum Wendepunkt, als er in Berlin Richard Janthur kennengelernt hatte. Der Eintrag
vom 16. Juli 1927 endete wiederum mit dem Zweifel und der Verunsicherung über
die angemessene Art des biographischen Schreibens:
„Es widerstrebt mir, die Umwege alle zu beschreiben, die ich machen musste, um end-
lich selbständig arbeiten zu können. Es ist so unerfreulich, die nutzlosen Anstrengungen
zu rekonstruieren. Von der wirklichen Entwicklung zu schreiben, ist schwerer und weit-
schweifig. So verfällt man ins Anekdotische. Das kann man erübrigen. So will ich nun
mehr schlagwortartig alles Weitere festhalten.“203
201 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 15.7.1929.
202 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931, Eintrag 16.7.1929.
203 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 15.7.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463