Seite - 143 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden | 143
Die folgenden Einträge von Juli und August 1929 sind kürzer als die beiden ersten,
und die biographischen Erzählungen traten zugunsten von allgemeinen Gedanken
und tagesaktuellen Aufzeichnungen immer mehr in den Hintergrund. Den Lebens-
verlauf führte er dennoch weiter, mit Einträgen zur Pariser Zeit, zur Rückkehr nach
München, die 1915 erfolgt ist, und seinem späteren Engagement in der Münchner
Räterepublik 1918/19 bis hin zur Übersiedlung ins oberösterreichische Innviertel.
Wie angekündigt erfolgte die Darstellung „schlagwortartig“, in sehr kurzen, oft un-
vollständigen Sätzen. Am ausführlichsten noch beschrieb er die Pariser Zeit, die
mittlerweile vollzogene Distanz vom expressionistischen Malstil ist wieder deutlich
spürbar. Manches wurde dennoch positiv bilanziert, zum Beispiel die durch Geld-
mangel erzwungene Not, die dem Künstler ein „anderes“ Paris offenbart habe:
„Die Not dieser 14 Tage hat mir genützt, ich habe gesehen, was ich sonst niemals in Paris
sehen konnte: die Armut, die Formen der Trostlosigkeit, des Elends. Und fand, dass die
Bezirke des Elends schöne Lichtseiten menschlicher Größe aufwiesen. Seit damals besteht
eine warme Sympathie für die Menschen unterm Rad. Unter den Enterbten fand ich viel
Herzensgüte und eine Schönheit der Denkungsart, die ich lieben lernte.“204
Über seine künstlerische Entwicklung, seine Auseinandersetzung mit dem Expressi-
onismus gab er Auskunft, indem er sich als beeinflusst darstellte, als Suchender, der
einer „Mode“ folgend den für ihn offenbar nicht richtigen Weg eingeschlagen hatte:
„Wir waren in der Schweizer Akademie (Acad. Colarossi). […] Klassenobmann bei Cola-
rossi war ein Schweizer Maler Kempter205. Habe mich mit ihm angefreundet. Er hatte ei-
nen Vertrag mit einem Kunsthändler in Zürich. Und war gewollt modern. Hatte mich mit
Absicht beeinflusst: ich erinnere mich, wie ich eines Abends beim Akt eine schöne, klare,
sichere Figur zeichnete; klassisch und von großer Harmonie. Er schrieb spöttisch darun-
ter: Ernst? Und da damals einige Maler bereits extravagant die Natur zerlegten, verbogen,
so eignete ich mir diese Methode an. Suchend, ziellos, unharmonisch. Nur die Schilderun-
gen des Armutsmilieus, die ich damals ganz absichtslos skizzierte, waren gut. Sie waren
frei gezeichnet, ohne Tendenz: nur bemüht, den Kern des Tatsächlichen aufzuzeigen.“206
204 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 31.7.1929.
205 Vermutl. Ernst Kempter (1891–1958), Schweizer Maler und Graphiker. Vgl. Schweizerisches Insti-
tut für Kunstwissenschaft, Lexikon zur Kunst in der Schweiz, abrufbar unter http://www.sikart.ch/
KuenstlerInnen.aspx?id=4025616 (2.9.2019).
206 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 31.7.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463