Seite - 144 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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In der Wortwahl und Argumentation finden sich hier Formulierungen, die dem
zeitgenössischen konservativen beziehungsweise völkisch-nationalen Kunstdiskurs
entsprechen. Zentral dafür ist die Gegenüberstellung einer „gewollten“, rational-in-
tellektuell begründeten Moderne mit einem von innen kommenden, harmonischen
und offenbar natürlichen künstlerischen Ausdruck. Wachs Schilderung stimmt mit
diesem Diskurs überein, sowohl inhaltlich wie auch in der Wortwahl.207 Seine Ab-
grenzung vom Expressionismus erfolgte somit keineswegs aus opportunistischen
oder strategischen Gründen erst in der Zeit der NS-Herrschaft, ganz klar hat er die-
sen Bruch bereits in den 1920er-Jahren vollzogen. Zum Pariser „Irrweg“ gehörte
rückblickend auch die Drogenerfahrung. Im Vergleich zu einer sehr viel ausführ-
licheren Darstellung in einem erhaltenen Brief des Künstlers an den Verleger und
Freund Reinhard Zenz von 1916208 fand sie in den „biographischen Notizen“ nur
knappe Erwähnung:
„In der letzten Pariser Zeit meist im Alkohol- oder Cocainrausch. Paris schien trüb zu
enden. […] In Paris sah ich viel Rühmenswertes. Den Invalidendom mit Napoleons Grab,
Versailles – wirklich bewegt haben mich nur einige Kunstwerke, einige Stunden mit Men-
schen und die entsetzliche Reaktion nach dem Cocain.“209
Aufgrund des Krieges mussten Wach, seine spätere Frau und andere Freunde aus
Deutschland Paris verlassen, was er nachträglich als „Unser Glück: wir mussten fort“
resümierte. Nach einer kurzen Zeit am Land und in Stuttgart ging er zurück nach
München. Staccatoartig dazu folgende Aufzeichnungen:
„Nach München zurück. Georgenstraße. Bekanntschaft mit Anthroposophen um Steiner.
Guter Einfluss, Rückfindung zur Mystik. Bekanntschaft mit Alexander v. Bernus, dem
Dichter. Er hat mich protegiert. Alfred Schmid-Noerr, Schrimpf, Scheffler. Mit Birnba-
cher in der Neuen Secession ausgestellt. War Mitarbeiter im ‚Sturm‘ Berlin. Viel radiert
und Holzschnitte gemacht. Wie am Ammersee. Freundschaft mit Kapellmeister Walter
Blume. In Goltz’ Neuer Galerie stellte ich aus, nachdem ich 1916 eine Kollektivausstellung
dort hatte. Im Kunsthaus ‚Das Reich‘ eine große Ausstellung während des Krieges. Alles
207 Vgl. z.B. die Begrifflichkeit „ohne Tendenz“. „Tendenzkunst“ war ein typischer Kampfbegriff im
völkischen Kunstdiskurs zur Bezeichnung moderner Kunstbewegungen. Auf die Titelseite sei-
ner „Biographischen Notizen“ stellte Wach auch ein Zitat des völkischen Kunsttheoretikers Paul
Schulze-Naumburg (NSDAP-Mitglied seit 1930 und wesentlicher Wegbereiter nationalsozialisti-
scher Kunstideologie) voran.
208 OÖLM, Bibliothek, NL Wach, Sch. 1, AW an Reinhold Zenz, [München] 6.8.1916.
209 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931, Eintrag 31.7.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463