Seite - 148 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 148 -
Text der Seite - 148 -
| 2 KünstlerInnen über
sich148
was ganz Anderes herauskrystallisieren müssen. So bin ich durch ihn eigentlich blamiert
worden.“223
Im letzten Eintrag vom 25. Mai 1931 nahm er seine harsche Kritik aber wieder zu-
rück und meinte:
„Was hat das Äußere zu tun mit dem Wirklichen? Es ist ganz umsonst, zu kritisieren, es im
Nachhinein besser wissen zu wollen. Wie es ist, ist es gut. Schreibst du etwas nieder, so ist’s
im selben Momente verfehlt; am meisten Selbstfixierungen. Der momentane Ärger und
die momentane Ansicht darf nicht zu plötzlichen weittragenden Entscheidungen führen.
Es ergibt sich alles von selbst.“224
In dieser Relativierung seiner Kritik schwingt viel mit von Wachs bereits andernorts
postulierter Skepsis der Möglichkeit autobiographischer Darstellung. Ein auch von
anderen AutobiographInnen oftmals beschriebenes „Sich-selbst-nicht-Wiederer-
kennen“ in den eigenen Aufzeichnungen, basierend auf der Transformation von Ge-
fühlen und Wahrnehmungen in Textform, ist genau das Phänomen, das Wach hier
beschreibt. Bei ihm wurde dies insofern noch verstärkt, als es eine andere Person
war, die seine Aufzeichnungen und damit ihn als biographisches Subjekt nicht ver-
standen und nicht adäquat wiedergegeben hatte. Dennoch schloss Wach versöhn-
lich ab und führte das eigene Tagebuchschreiben weiter. Die Form der überlieferten
späteren Tagebuchaufzeichnungen zeigt, dass auch diese vermutlich nicht nur pri-
vat, sondern für eine eventuelle Öffentlichkeit (mit-)geschrieben wurden.225
Im Nachlass des Künstlers befindet sich schließlich noch ein kurzer handschrift-
licher Text mit dem Titel „Das Tagebuch“, der den Anschein erweckt, als wollte
Wach eine Art Zusammenfassung oder Essenz seiner bis dahin geschriebenen Tage-
buchaufzeichnungen verfassen. Der Künstler resümierte dabei nicht zuletzt über die
Unmöglichkeit auto/biographischer Erkenntnis:
„Ich habe nur weniges aus dem Buch notieren können, die Fülle überwältigt. Es reihen
sich Erregungen, bergauf und ab fluten Mut und Mutlosigkeit. Zeugnisse von Stunden der
Niedergeschlagenheit, der Hoffnung, des Trostes, fluchender Verzweiflung und himm-
223 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 9.3.1931.
224 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Eintrag 25.3.1931.
225 So sind die ursprünglich handschriftlichen auf lose Blätter geschriebenen Einträge auch in einer
maschinschriftlichen und gebundenen Fassung erhalten. Die durchaus nicht unübliche Praxis des
Übertragens/Abschreibens/Kopierens von Tagebüchern verweist zumindest auf die Möglichkeit
einer geplanten späteren, nicht ausschließlich individuellen Verwendung der Aufzeichnungen.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463