Seite - 167 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen | 167
Wochenbett Etiketten geschnitten haben. Ihr Wort: ‚Jede Bequemlichkeit ist mir eine Un-
bequemlichkeit‘ ist auch mir Wahrheitswort.“266
So wissen wir nach den ersten Sätzen zwar nicht (und erfahren es auch später nicht),
wo und wann Margret Bilger geboren wurde, dafür kennen wir die Herkunft und
Profession des Großvaters sowie den Leitspruch ihrer Großmutter. Der Text wurde
fortgesetzt mit der Beschreibung des Gartens „zwischen Wohnhaus und Fabrik“.
Nur durch den Kontext erschließt sich, dass Bilger mit ihren Eltern im Wohnhaus
der Großeltern in Graz aufgewachsen ist. Der Garten wurde besonders ausführ-
lich beschrieben als nicht gerade alltäglich-bürgerliches Umfeld mit „Teich, Grotte,
Glashäusern, Affenkäfigen und Papageien“.267 Der Papagei scheint in besonderer Er-
innerung geblieben zu sein, fast poetisch klingt Bilgers rückblickende Erinnerung:
„Sogar das Zuhacken des starken Schnabels vom Papagei, bis auf’s Blut, nachdem
er zutraulich dienerhaft zart sein Brazerl um den Finger schlang – schien mir nicht
unmotiviert.“268 Unmittelbar darauf folgt die mit religiösen Assoziationen ausgestat-
tete Beschreibung eines Ereignisses, das in Bilgers Kinderleben eine zentrale Zäsur
darstellte, wie auch aus anderen autobiographischen Zeugnissen der Künstlerin her-
vorgeht: die Geburt ihrer geliebten Schwester Irmtraut:
„Durch die Geburt meiner Schwester kam dann erst ein selig Gefühl von Bergen und
Geborgensein in mich. Ich sang es in Liedern vor mich hin, wie vor dem Wunder der
Weihnacht. Ich erinnere mich, daß ich ein Wachsjesulein aus der Krippe aus- und einlegte,
immer singend dazu: Ich leg’s aus meinem Herz heraus in’s Kripplein hinein, – und ich
leg’s aus dem Krippelein heraus und in mein Herz hinein!“269
Den Vater beschrieb Bilger als „Universitätslehrer für neuere Geschichte voll sensib-
ler Herzenshöflichkeit“, mit der Mutter „voll Intuition und französischem Tempera-
266 Margret Bilger, Lebensbericht (niedergeschrieben 1968), in: Wutzel, Otto (Hg.), Margret Bilger.
1904–1971. Ausstellungskatalog Zisterzienserstift Schlierbach, Linz 1975, 25–28, 25.
267 Bilger, Lebensbericht, 25. Petra-Maria Dallinger findet dafür die Interpretation einer „Kindheit im
bukolischen Ambiente des großelterlichen Parks“. Vgl. Dallinger, Margret Bilger im Briefwechsel,
15.
268 Bilger, Lebensbericht, 25.
269 Irmtraut Bilger, die Schwester von Margret Bilger, wurde am 5.12.1910 geboren. „Irms“ und Grete
waren zeitlebens stark verbunden, wie die Schwester schlug auch Irmtraut einen künstlerischen
Weg ein. Sie war mit dem Künstler Franz Blum (1942 in Russland als Soldat gefallen) und dem
Astrologen Thomas Ring verheiratet. Zu Lebensweg und künstlerischem Werk von Irmtraut Ring-
Bilger vgl. Melchior Frommel (Hg.), Irms Ring-Bilger. Zeichnungen und Bildteppiche: anlässlich
des 100. Geburtstages 2010, Taufkirchen an der Pram, Weitra 2011.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463