Seite - 183 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 183
waren keinesfalls jene, die dem schöpferischen Part zuzurechnen sind. Darauf baute
auch Schefflers eingangs zitierte Studie auf, die dies für sämtliche Sparten des Kunst-
und Kulturbetriebs darzulegen vermeinte. Apodiktische Aussagen ließen dabei Na-
tur und Geschichte Beleg genug sein, argumentative oder gar empirische Beweisfüh-
rungen waren nicht von Nöten. Der Satz „Das beweist allein schon die Geschichte“
genügte Scheffler als Argument dafür, dass Frauen prinzipiell nicht schöpferisch sein
könnten. Versuchten sie es – und genau das taten immer mehr ZeitgenossInnen
Schefflers – so „verrenkten“ sie dabei ihre Natur, was keineswegs gut gehen könne:
„Es zeigt sich dem Beobachter, daß die Frau, die ihre harmonische Geschlossenheit zer-
stört und sich zu einseitigem männlichen Wollen zwingt, diesen Entschluß fast immer mit
Verkümmerung, Krankhaftigkeit oder Hypertrophie des Geschlechtsgefühls, mit Perver-
sion oder Impotenz bezahlen muß. Besäßen wir zahlenmäßige Angaben, so würde es sich
zeigen, daß zwei Drittel aller Künstlerinnen und mehr im Geschlechtsempfinden irgend-
wie anomal sind.“14
Pathologisiert wurden nicht nur Frauen, die sich zu künstlerischer Tätigkeit hinge-
zogen fühlten und dies umsetzen wollten, auch die familiäre Umgebung wurde der
Anomalie verdächtigt, wenn Scheffler weiter ausführte:
„Denn es fällt auf, daß weibliche Talente sehr oft aus geistig und körperlich ungesunden
Familien stammen, aus Geschlechtern, deren Lebenskraft erschöpft ist, aus Künstlerfami-
lien vor allem und von weichlichen und neurasthenischen Vätern.“15
Nun mag es den väterlichen Familienoberhäuptern ohnehin meist nicht leichtge-
fallen sein, den Töchtern eine künstlerische Laufbahn zu erlauben. Wenn sie dabei
noch Gefahr liefen, als verweichlichte Neurastheniker diskreditiert zu werden, stei-
gerte dies die väterlichen Ambitionen wohl kaum.
Wie – und dies nur beispielhaft unter vielen – Schefflers hier zitiertes Werk zeigt,
ging es in dem gesellschaftlichen Machtkampf, der dem Geschlechterdiskurs der
Jahrhundertwende zugrunde lag, um weibliche Anteilnahme am öffentlichen Leben.
Überschritten Frauen die ihnen zugewiesenen Rollen – im Fall der bildenden Kunst
waren dies klassischerweise jene der Modelle, Musen und praktischen Unter
stütz er-
14 Scheffler, Die Frau und die Kunst, 92.
15 Scheffler, Die Frau und die Kunst, 94.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463