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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse188
Alfred Kubin verehrte nicht nur Weininger, seine „Seelenverwandtschaft“ mit
weiteren Proponenten des zeitgenössischen misogynen Diskurses wurde bereits be-
nannt. Er stand damit im zeitgenössischen Geschlechterkampf auf jener Seite, in der
die Frauenverachtung integraler Bestandteil einer männlichen Überlegenheitsphi-
losophie war, die sich gegen die Ansprüche der aufkommenden Frauenbewegung
zu wehren hatte. Geht man von der enormen Wirkmächtigkeit solcher Diskurse
aus, brauchen wir für Kubins Misogynie, speziell in der Frühphase von Leben und
Werk, nicht unbedingt nach zentralen autobiographischen Schlüsselerlebnissen su-
chen, wie dies in der bisherigen biographischen Rezeption – immer in Übernahme
von Kubins autobiographischer Konstruktion – üblicherweise stattfand. Wolfgang
Müller-Thalheim beispielsweise, der als Arzt und Kubinsammler mehrere Abhand-
lungen über den Künstler verfasste, suchte in psychoanalytischer Herangehensweise
Erklärungen für Kubins Frauenhass in der Kindheit des Künstlers, in der schwieri-
gen Beziehung zum übermächtigen Vater und zu der als schwach typologisierten
Mutter.34 Er übernahm dabei Kubins Erzählung aus der Autobiographie, wonach
ihn die Annäherung und sexuelle Belästigung durch eine ältere Frau im Kindesalter
nachhaltig verstört habe. Die betreffende Passage in Kubins Autobiographie lautet:
„Nach Ablauf des Trauerjahres heiratete mein Vater wieder und zwar die Schwester mei-
ner Mutter. Über diese Zeit bis zu meinem Eintritt ins Salzburger Gymnasium kann ich in
dieser autobiographischen Skizze ruhig hinweggehen. Nur einen sehr wesentlichen Punkt
muß ich hier streifen. Ich war nämlich gerade elfeinhalb Jahre alt, als ich durch eine ältere
Frau in sexuelle Spielereien verwickelt wurde, was mich maßlos aufregte und bis in meine
frühe Manneszeit seine Schatten warf.“35
Müller-Thalheim erweiterte diese Erzählung noch durch eine Information, die er
direkt im persönlichen Gespräch von Kubin dazu erfahren habe. Danach habe es
sich bei jenem Ereignis um „genitale Manipulationen, ausgeführt von einer Schwan-
geren, die sich ihm nackt zeigte“36 gehandelt. Als Narrativ passt diese Erzählung
34 Vgl. W.
K. Müller, Alfred Kubin in psychiatrischer Sicht, in: Materia Medica Nordmark Sonderheft
(1961), 1–16; Wolfgang K. Müller-Thalheim, Erotik und Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine
psychopathologische Studie, München 1970.
35 Alfred Kubin, Aus meinem Leben. Gesammelte Prosa mit 73 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemer-
schmidt, München 1974, 10. Wie bereits beschrieben wurde jene Passage in zahlreichen Werken
über Alfred Kubin und zumeist als Erklärung seines frühen Frauenbildes weiter überliefert, so –
und dies nur als Auswahl – in: Peters/Brockhaus (Hg.), Alfred Kubin, 142; Andreas Geyer, Träumer
auf Lebenszeit, 52.
36 Müller-Thalheim unter Berufung auf eine mündliche Mitteilung Kubins, vgl. Müller-Thalheim,
Erotik und Dämonie, 11.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463