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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 195
Die Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten wie der Gonorrhoe oder der noch
viel mehr gefürchteten, weil wesentlich bedrohlicheren Syphilis, beeinflusste den
Geschlechterdiskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wohl
mehr als bislang in der Forschung thematisiert. So betonte der nicht nur von Ku-
bin so geschätzte und einflussreiche Philosoph Arthur Schopenhauer die Bedeutung
der Syphilis, an der er vermutlich auch selbst litt,58 weit über ihre medizinischen
Folgen hinaus und schrieb der Krankheit eine wesentliche Rolle im Verhältnis der
Geschlechter zu:
„Die venerische Krankheit59 nämlich erstreckt ihren Einfluß viel weiter, als es auf den
ersten Blick scheinen möchte, indem derselbe keineswegs ein bloß physischer, sondern
auch ein moralischer ist. Seitdem Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Ver-
hältnis der Geschlechter zu einander ein fremdartiges, feindseliges ja teuflisches Element
gekommen, in Folge wovon ein finstres und furchtsames Misstrauen es durchzieht;“60
Bereits seit dem Auftreten der Erkrankung im 15. Jahrhundert fokussierten die
Maßnahmen zur Bekämpfung der Syphilis auf Frauen, im Konkreten zumeist auf
Prostituierte, als Überträgerinnen. Während im 16. Jahrhundert von manchen Me-
dizinern sogar davon ausgegangen wurde, dass alle Frauen die Syphilis generell in
sich tragen würden, diese aber erst bei wechselnden Geschlechtskontakten ausbre-
chen bzw. an den Mann übertragen würde,61 war auch im 18. und 19. Jahrhundert,
im Zusammenhang mit der Pathologisierung des weiblichen Körpers im medizini-
schen Diskurs der Zeit, noch das Bild der Frau als „Infektionsherd“ gegeben. Katja
Sabisch spricht für die Zeit des späten 19. Jahrhunderts von einer opinio communis,
58 Bereits zeitgenössisch wurde Schopenhauers Misogynie in Zusammenhang mit einer Syphilis-
Erkrankung argumentiert, so in einer Darstellung des Berliner Arztes Iwan Bloch 1904, vgl. Katja
Sabisch, Das Weib als Versuchsperson. Medizinische Menschenexperimente im 19. Jahrhundert
am Beispiel der Syphilisforschung, Bielefeld 2007, 27.
59 Die Syphilis war auch als „Venerische Krankheit“ oder „Lustseuche“, im deutschsprachigen Raum
auch als „Franzosenkrankheit“, bekannt. Der Begriff der Venerischen Krankheit inkludierte bis
etwa 1880 auch andere sexuell übertragbare Krankheiten wie die Gonorrhoe. Erst um 1880 konnte
der Nachweis erbracht werden, dass es sich dabei um verschiedene Erkrankungen handelt. Vgl.
Anja Schonlau, Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin (1880–2000),
Würzburg 2005, 27 f.
60 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Erster Band
(Sämtliche Werke 5), Wiesbaden 1972 [EA 1850], 414f.
61 Vgl. Schonlau, Syphilis in der Literatur, 57.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463