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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 197
habe, verstorben sei.67 Lange Zeit wurde sie von den Ärzten in Unwissenheit über
den Hintergrund der Krankheit gelassen. Ob die Krankheit auch auf sie und ih-
ren Sohn übertragen wurde, beziehungsweise ob sie solche Befürchtungen hegte,
wird in der Autobiographie nicht thematisiert. Aus einer anekdotenhaft überliefer-
ten Erzählung Kubins geht allerdings hervor, dass sich wenige Monate nach seiner
Hochzeit mit Hedwig herausgestellt habe, dass auch Hedwig infiziert gewesen sei.
Kubin schilderte seine daraufhin einsetzende Angst vor der besonders gefürchteten
Folgeerkrankung der Syphilisinfektion, der progressiven Paralyse,68 an der Hedwigs
erster Ehemann gestorben war. In der Erzählung Kubins findet sich exakt jenes be-
reits beschriebene Narrativ der „todbringenden Frau“:
„Es war die Hölle, denn ich fürchtete nichts so sehr wie den Verlust meiner geistigen
Fähigkeiten. Auch ich mußte mich behandeln lassen. Mit Salben, die hochgiftig waren,
wurde mein Körper ausgebrannt, und es war uns dann nicht mehr vergönnt, eigene Kin-
der zu haben. […] Ab dieser Zeit wußte ich, daß nicht ich allein den Tod bringen konnte,
es schienen mir vor allem die Frauen zu sein, die für eine Verbreitung der Geschlechts-
krankheiten sorgten. Das redete ich mir ein, weil es mir eine große Erleichterung ver-
schaffte. Hedwig und ich lebten danach enthaltsam, und wir waren trotzdem glücklich.
Daß Erotik und Sexualität aber immer einen großen Stellenwert in meinem Leben ein-
genommen haben, kann ich nicht leugnen. Meine Frauendarstellungen waren allerdings
bedrohlich, furchterregend und auch ein wenig krankhaft. So krank, wie meine eigene
Angst vor jenen Frauen, die ich nicht mehr an mich heranlassen wollte. Durch die bildli-
chen Darstellungen verschaffte ich mir immer mehr Erleichterung, ich konnte jene Blätter
im Schrank ablegen, damit gelang mir im Lauf der Zeit ein gewisser Abstand zu meinen
Gedanken und Ängsten.“69
Wie bereits gezeigt, war diese Vorstellung und Angst vor der „todbringenden“ Frau
durch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten bei Kubin nicht erst nach der
geschilderten Syphilis-Erkrankung zu Beginn seiner Ehe entstanden, sondern schon
in den Jahren zuvor. Aus der Zeit rund um die Gonorrhoe-Erkrankung im Jahr 1901
stammen die misogyn aggressiven Zeichnungen der geplanten Mappe „Das Weib“.
Einer Unterstützerin schrieb er im Sommer 1902, dass er gerade „mit Hochdruck“
67 Kubin-Archiv, Hedwig Kubin, Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend, unveröff. Manu-
skript, 1934. 1893 hatte Hedwig, geb. Schmitz, den Gerichtsassessor Otto Gründler geheiratet, 1894
wurde der gemeinsame Sohn geboren, 1901 starb Otto Gründler. Vgl. ebda.
68 Vgl. zum Krankheitsbild Schonlau, Syphilis in der Literatur, 12 f und 26
ff.
69 Zit. nach Mairinger, Meine Verehrung, 23.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463