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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 199
Affe dem aus gütigem Zufall in einer Kapsel ein Quäntchen Hirnmasse, grau und weiss
mehr zu theil wurde, vielleicht nur 5 oder 7 gran. Doch das genügte schon um dich glau-
ben zu machen du seist viel mehr, mehr du nennst dich nämlich jetzt – Mensch! – bravo,
bravo. –“73
Von „eifersüchtigen Phantasien“ schrieb Kubin – vermutlich ziemlich gleichzeitig
zum obigen Textfragment – auch in einem Brief an seinen Freund Hans von Müller:
„Zu was Schaffen? um meine Erzeugnisse schert sich doch keiner. Nun habe ich es mit
der ‚Liebe‘ versucht. Ein reizendes schönes Naturkind im Wesen und Körper ganz mein
Geschmack. Auch war sie noch unberührt, denn ich habe selbst im Juni v. J. das fragliche
Häutchen zerstört. Glauben Sie aber, daß ich froh und glücklich bin?? Weit gefehlt. [...]
Sind wir nicht beisammen foltern mich eifersüchtige Phantasien auf das Scheußlichste
und wahrscheinlich ohne Grund. Haben Sie lieber Herr Müller eine sichere Methode wie
man seinem Weibe die zweifelssichere Wahrheit abringt? Auch ich fürchte das gibt es gar
nicht.“74
In den Briefen und Texten des jungen Kubin zeigt sich somit sehr deutlich die Ve-
hemenz und Intensität, mit der sich die Geschlechterfrage für den jungen Künstler
gestellt hat, und wie sehr er den misogynen Geschlechterdiskurs der Jahrhundert-
wende mit seiner eigenen sexuellen Entwicklung verbunden hat. In der Autobiogra-
phie findet sich all dies in wesentlich knapperer Zusammenfassung, rückblickend als
Etappe einer Gesamtentwicklung dargestellt, die vom jungen, sexuell ungebunde-
nen, aktiven hin zum ruhigeren Ehemann führen sollte. Direkte Äußerungen über
Frauen bzw. Kubins Einstellung zu ihnen finden sich in der Autobiographie kaum.
Die erste Passage in der Autobiographie, die sich explizit mit seinem Verhältnis zu
Frauen im sexuellen Sinn beschäftigt, ist jene bereits erwähnte Erzählung der Ver-
störung durch eine „ältere Frau“ im Kindesalter. In einem knappen Abschnitt über
seine Zeit als Lehrling in Klagenfurt nahm er schließlich Bezug auf sein beginnen-
des Sexualleben:
„Nun kam ein zügelloses Jahr. Es begann mit hochfliegenden, idealen Liebesanwandlun-
gen, welche regelmäßig unerwidert blieben und dann in sexuellen Träumen versande-
ten. Bis dahin hatte ich nämlich nur eine ausgesprochene Verachtung für das weibliche
73 Kubin, „Weiberfragment“, zit. nach Geyer, Träumer auf Lebenszeit, 241.
74 Kubin-Archiv, AK an Hans von Müller, 16.1.1902. Der betreffende Brief ist auch zit. in Hoberg, Der
Briefschreiber Alfred Kubin, 38 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463