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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 201
„Ich war fast 45 Jahre alt, als ich mein Herz, dessen Sehen ich seit meiner Heirat gestillt
wähnte, jäh für eine junge Künstlerin schlagen fühlte. Da meine Frau, die beste Freundin
und Geliebte, die mir das Schicksal gab, sich in dieser heiklen Lage so ungewöhnlich klug
und taktvoll benahm, überwog gar bald die ältere Neigung, und es gelang mir, den Brand
zu löschen.“79
Die Beziehungen zu anderen Frauen wurden von der Ehefrau Hedwig nicht nur in
diesem einen Fall toleriert. Wie aus ihren autobiographischen Aufzeichnungen her-
vorgeht, unterstützte sie Kubins „Affären“ nicht zuletzt deswegen, weil sie in ihnen
eine Inspirationsquelle für den Künstler sah.80 Auch in Kubins eigenem Künstlerbild
waren Erotik und sexuelle Potenz als Stimulans für den Künstler als Topos fest ein-
geschrieben. 1910 hatte er an seinen Freund Hans von Müller geschrieben: „Hof-
fentlich komme ich für dieses Mal noch einmal an einer Hodenentzündung vorbei,
sonst ist die Genialität futsch – wenn ich impotent würde.“81
Die Toleranz für Kubins Affären zugunsten seiner künstlerischen Kreativität
passte zu Hedwig Kubins Rolle, die sie in dieser Ehe als Unterstützerin ihres Mannes
übernommen hatte.82 Recht offen schilderte Kubin seinem späteren Hausarzt und
Vertrauten Alois Beham die Ursprünge und Entwicklung seiner Eheschließung, die
sein Freund Oscar A. H. Schmitz, der Bruder Hedwigs, angebahnt hatte:
„[Schmitz] sah meine Nöte, auch die wirtschaftlichen, und sah einen Ausweg. Er wollte
nämlich seine verwitwete Schwester Hedwig, die aus ihrer ersten Ehe einen kleinen Sohn
hatte, wieder unter die Haube bringen. Hedwig – ich fand sie überaus liebenswert – war
eine gebildete, mütterliche Dame, die sich wieder nach einer Familie sehnte. Wohl sah sie
in mir auch einen armen Teufel, um den man sich kümmern mußte. Auch ich war nicht
schen Kubin und Haesele von Brita Steinwendtner im Roman: Du Engel – Du Teufel. Emmy Ha-
esele und Alfred Kubin – eine Liebesgeschichte, Innsbruck, Wien 2009. Über andere außereheliche
Beziehungen, darunter auch mit Hedwig Kubins Schwester Tilly, geben verschiedene Briefkorre-
spondenzen Hedwig und Alfred Kubins, die Tagebuchaufzeichnungen Hedwig Kubins und auch
Kubins Tagebucheinträge Aufschluss (alle Kubin-Archiv). Letztere in diesem Zusammenhang zit.
bei Settele, Zum Mythos Frau, 103 f.
79 Kubin, Aus meinem Leben, 70 f.
80 Kubin-Archiv, Tagebuchaufzeichnungen Hedwig Kubin, Juli–Dezember 1934; Hedwig Kubin an
Kurt Otte, Unken bei Salzburg 22.4.1934.
81 AK an Hans von Müller, Zwickledt 30.12.1910, zit. nach Assmann, Kubin handschriftlich, 21. Die
Äußerung verweist vermutlich auch auf eine neuerliche Gonorrhoe-Erkrankung.
82 Zur Rolle Hedwigs in der Ehe mit Alfred Kubin vgl. auch Eva-Maria Herbertz, „Sehr viel Her-
zenskraft brauche ich jetzt, um Alfred zu ertragen.“ Hedwig Kubin (1874–1948), in: Eva-Maria
Herbertz (Hg.), Leben in seinem Schatten. Frauen berühmter Künstler, München 2009, 11–31.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463