Seite - 202 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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Diskurse202
abgeneigt, mich mit ihr zu liieren, denn Hedwig hatte auch noch andere Vorteile zu bie-
ten. Sie beherrschte vier Sprachen und war mit Gütern und Geld gesegnet – sie besaß ein
großes Haus, das gute Mieteinnahmen abwarf. Als sie mich zu lieben begann, machte sie
mir jedoch gleich klar, daß sie sich hinkünftig um alles kümmern wollte, auch ums Geld.
[…] Alsbald aber, nach unserer Heirat, beraubte sie mich zunehmend meiner Freiheit
und begann mich zu beherrschen. Ich durfte nicht am Abend ausgehen, nicht mehr mein
Nachtleben genießen, was mir auch wegen der Inspiration fehlte, dann verbot sie mir den
Konsum verschiedener Genußmittel. [...] Meine Freunde lachten schon über mich und
meine Hilflosigkeit, sagten, ich stünde unter einem mächtigen Pantoffel, womit sie auch
recht hatten. [...] Ich war nicht mehr ich selbst. Und von meiner phantastischen Kunst ist
dann auch nichts mehr geblieben. Meine Ideen blieben aus.“83
Die Erzählung ist mehrfach interessant: Sie verweist zunächst auf die praktisch-
wirtschaftlichen Aspekte, die mit der Eheschließung verbunden waren – man
könnte von beiden Seiten aus betrachtet von einer „Vernunftehe“ sprechen. In dem
Hinweis darauf, dass die Ehefrau ihm zunächst das Nachtleben verboten und ihm
damit seine „Inspiration“ genommen habe, zeigt sich wieder ein bekanntes Künst-
lerstereotyp, wonach ein großes Maß an Freiheit zur Kreativität notwendig und ein
bürgerlicher Lebenslauf dem künstlerischen Leben dementsprechend abträglich sei.
Die schlechte Anfangssituation der Ehe scheint sich nach Kubins Darstellung bald
gebessert zu haben, wobei Hedwigs Krankheit84 eine wesentliche Rolle gespielt zu
haben scheint. Einerseits wurde ihre Krankheitsanfälligkeit zur Belastung für den
Künstler, andererseits scheint sie aber die geschlechtsspezifische Machtverteilung in
der Beziehung zu seinen Gunsten verändert zu haben:
83 Zit. nach Mairinger, Meine Verehrung, Zur methodischen Problematik dieser Quelle vgl. weiter
oben.
84 In der biographischen Literatur ist von einer „Gesichtsneuralgie“ zu lesen, die eine Morphiumab-
hängigkeit auslöste. Angesichts des oben zitierten Berichts könnte vermutet werden, dass es sich
dabei um eine neurologische Folgeerkrankung der Syphilisinfektion handelte. In ihrer Autobio-
graphie schreibt Hedwig Kubin aber auch davon, dass sie bereits als Kind, seit einer Gehirnhaut-
entzündung im Alter von zwei Jahren, höchst krankheitsanfällig gewesen sei. Vgl. Kubin-Archiv,
Hedwig Kubin, Aus meiner Kindheit und Jugend, unveröff. Manuskript, 1934. Aus dem Briefwech-
sel zwischen Alfred und Hedwig Kubin lässt sich rekonstruieren, welch lange Zeitperioden Hedwig
Kubin in verschiedenen Sanatorien verbracht hatte, nicht zuletzt um einen Entzug der entstan-
denen Morphiumabhängigkeit zu erreichen. Vgl. dazu Kubin-Archiv, Hedwig Kubin an AK. Die
Briefe von Alfred an Hedwig Kubin aus der Frühphase ihrer Ehe, bis 1909, wurden zuletzt auch
publiziert. Vgl. Franz Hamminger, Mein armer Liebling. Alfred Kubin an Hedwig Kubin. Briefe
von 1905–1909, Schärding 2019.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463