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Diskurse208
schaften gezeichnet waren, auch wenn das Gesicht eine Maske war. Männer konnten mich
nicht wie ein weibliches Wesen zum Rätselraten verführen. Damals hatte ich Bachofen,
sein Werk über das Matriarchat, zu lesen begonnen mit dem gleichen Enthusiasmus, wie
andere die Schriften von Karl Marx. Einen seiner Schüler, den Engländer Briffault, hatte
ich in Wien persönlich im Salon der Frau Dr. Schwarzwald kennengelernt. Heute noch
besitze ich seine Bücher, die er mir schenkte, obwohl ich kaum Sachen von früher behalten
habe. Ihm habe ich die griechische Deutung des Stoffes, aus welchem Träume gemacht
sind, Eros und Thanatos, zu verdanken. Ein Gegenpaar zu Fortschritt und Aufklärung.
Tage- und nächtelang grübelte ich über dem Geheimnis, das sich hinter Liebe und Tod
verbirgt.“98
Eros, die Liebe und Thanatos, der Tod sind also die Grundingredienzen des an den
Penthesilea-Stoff angelehnten Stücks „Mörder, Hoffnung der Frauen“, das von sei-
nem Umfang her betrachtet kaum mehr als eine dramatische Skizze darstellt.99 Der
„Mann“ und die „Frau“ treten darin in archetypischer Reduktion als Hauptpersonen
auf, begleitet werden sie jeweils von einem Chor von Männern und Frauen. In einer
aufgeladenen Stimmung von sexueller Anziehung, wobei es zunächst die Frau ist,
die als sexuell Überlegene und Mächtige auftritt, befiehlt der Mann seinen Kriegern,
die Frau zu brandmarken: „Ihr Männer, brennt ihr mein Zeichen mit heißen Eisen
98 Oskar Kokoschka, Mein Leben. Vorwort und dokumentarische Mitarbeit von Remigius Netzer,
Wien 2008 [EA 1971], 59. Auch in Kokoschkas politischen Überlegungen, die an der Erziehung
der Kinder im Sinne von Jan Comenius ansetzten, spielten die Ausführungen Bachofens über ein
angebliches Ur-Matriarchat eine einflussreiche Rolle. Die oben zitierte Begegnung mit dem Ba-
chofenschüler Robert Briffault fand der Korrespondenz zufolge erst 1934 statt. Es ist daher mög-
lich, dass in der Autobiographie die Zeitebenen hinsichtlich seiner Beschäftigung mit Bachofen
durcheinandergeraten sind. Vgl. Oskar Kokoschka. Briefe II. 1919–1934. Hg. von Olda Kokoschka/
Heinz Spielmann, Düsseldorf 1985, 278 sowie Oskar Kokoschka, Briefe III. 1934–1953. Hg. von
Olda Kokoschka/Heinz Spielmann, Düsseldorf 1986, 281.
99 In schriftlicher Ausführung liegt das Drama in verschiedenen Versionen vor, die sich zwar nicht
in der grundsätzlichen Handlung, aber doch textuell unterscheiden. Die erste publizierte Fassung
stammt von 1910 und wurde in Herwarth Waldens „Der Sturm“ publiziert, weiters erschien das
Stück 1913, 1916 und 1917. Vgl. dazu Horst Denkler, Die Druckfassungen der Dramen Oskar
Kokoschkas. Ein Beitrag zur philologischen Erschließung der expressionistischen Dramatik, in:
Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 40 (1966), 90–108. Die
textuellen Veränderungen in den vorliegenden Fassungen interpretiert Denkler als zunehmende
Abschwächung provozierender Äußerungen und Verrätselung der Handlung: „Nicht selten aber
handelt es sich bei solcherlei Änderungen um die Verwischung jener Spuren, die Weiningers The-
sen bei Kokoschka hinterließen; der Grund dafür ist jedoch weniger in primitiver Verschleierung
der Einflüsse als in der wachsenden Skepsis gegenüber dem Weiningerschen Lösungsprogramm zu
suchen.“ Ebd. 103.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463