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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse210
ich aus meinem Schülerleben aufgewacht bin, und wahrscheinlich ist auch aus diesem
Grunde die Idee zu dem Stück „Mörder, Hoffnung der Frauen“ in mir entstanden. In dem
Moment, wo ich eine Möglichkeit sah, daß ich zur Gesellschaft, die ich nicht kannte –
Aristokraten, obere Gesellschaft oder Arbeitergesellschaft, Masse – in einer Theaterauf-
führung sprechen kann, wußte ich auch, was ich ihnen zu erklären hatte: mein eigenes
Problem, mein Problem Mann und Frau.“104
Aus zahlreichen auto/biographischen Dokumenten Kokoschkas jener Zeit lässt sich
ein geradezu fanatisches Machtbedürfnis gegenüber Frauen herauslesen.105 Sei es in
der Korrespondenz der bereits an anderer Stelle thematisierten Beziehung zu Alma
Mahler, aber auch schon in Aussagen aus Liebesbeziehungen davor. Besonders auf-
schlussreich dazu zeigt sich ein erst jüngst in der Kokoschka-Forschung von Berna-
dette Reinhold besprochener Brief Oskar Kokoschkas an seinen väterlichen Mentor
Adolf Loos aus dem Jahr 1910. Über eine aktuelle Beziehung schrieb er:
„Ich will ein Kind von ihr, ein Mädchen, das ich zerstören könnte […], weil es mir
gehört.“106
Wie von Reinhard treffend analysiert, handelt es hierbei nicht um einen Kinder-
wunsch, sondern „den Drang, eine eigene (weibliche) Kreatur zu schaffen“, die bis
hin zur Frage von Leben und Tod beherrscht werden kann. Imaginiert wird diese
weibliche Kreatur – sowohl im realen Brief wie im erfundenen Drama – ganz in der
Tradition Weiningers als ausschließlich sexuelles Wesen. In den Regieanweisungen
zu „Mörder, Hoffnung der Frauen“ finden sich in den Beschreibungen der Frau und
ihrer Begleiterinnen ausschließlich Vokabel, die diese als von ihrer Sexualität be-
herrschte Wesen kennzeichnen („lüstern“, „fürchtend und verlangend“, „geil“)107 so-
wie zahlreiche Tier-Metaphern: „Wie ein Panther“, „wie eine Natter“, „wie eine Äffin“
104 ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz. 81.3. Diese Passage findet sich in der publizierten Ausgabe von
„Mein Leben“ nicht mehr bzw. stark verändert. Vgl. Kokoschka, Mein Leben, 60.
105 Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie, verwies in einem Gutachten zu Oskar Kokoschka
im Jahr 1916 auf dessen Verhältnis zu Frauen wie folgt: „Höchst charakteristisch ist ja auch seine
Beziehung zur Frau. So hat er z.B. jahrelang um eine Dame aus der besten Gesellschaft geworben,
hat aber in ihr stets seinen ‚Dämon‘ zu erblicken gemeint. Und als sie zusagte, die Seine zu werden,
hat er unter den nichtigsten Vorwänden in auffälliger Weise mit ihr gebrochen.“ Vgl. ZBZ, NL Olda
Kokoschka E 2004/ 05/11/IV/4 – Ärzte, Alfred Adler an Heinrich Teuscher, Wien, 29.9.1916.
106 OK an Adolf Loos, Leysin 18.2.1910, zit. in: Bernadette Reinhold, Adolf Loos und Oskar Ko-
koschka – eine außergewöhnliche Männer- und Künstlerfreundschaft, in: Markus Kristan/Sylvia
Mattl-Wurm/Gerhard Murauer (Hg.), Adolf Loos. Schriften, Briefe, Dokumente. Aus der Wienbi-
bliothek im Rathaus, Wien 2018, 275–282, 277.
107 Kokoschka, Mörder, Hoffnung der Frauen, 155 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463