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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 221
„das Talent auszuwerten“, sprich sich selbst zu versorgen, diese doch auf Ehe und
damit auch auf Hausarbeit angewiesen sein würde.
Als Bilgers Mutter diesen Brief schrieb, war es Frauen in Österreich erst seit drei
Jahren, nämlich seit 1918, offiziell erlaubt, an der Akademie für bildende Künste
zu studieren. An der Wiener Kunstgewerbeschule, die Margret Bilger zwischen
1924 und 1928 besuchte, waren Frauen hingegen seit der Gründung 1867 prinzipi-
ell zugelassen.136 Aber auch dort sollten sich Frauen auf die ihnen zugeschriebenen
Bereiche zurückziehen, und trotz der sezessionistischen Ansage einer Aufhebung
der Grenzen zwischen Kunst und Kunstgewerbe blieb der angewandten Kunst eine
Minderbewertung anhaften. Auch im sonst politisch und künstlerisch so fortschritt-
lichen Bauhaus wurden Frauen in die Textilklasse „abgeschoben“,137 immer in Be-
rufung auf gängige polare Geschlechtervorstellungen, die insbesondere das Weben
oder andere textile Arbeitstechniken einer weiblichen Sphäre zuordneten.138
Im Wesentlichen waren es zwei Hauptschwierigkeiten, mit denen Frauen kon-
frontiert waren, die sich zu jener Zeit professionell als Künstlerinnen betätigen woll-
ten: Das erste Problem war der Zugang zur akademischen Ausbildung – diese Hürde
war für die um 1900 geborenen Frauen als erste Frauengeneration zumindest theo-
retisch gefallen. Das zweite Problem war weniger konkret fassbar, aber umso wirk-
mächtiger: Die Vorstellung vom Künstler, speziell vom „Künstlergenie“ des 19.
Jahr-
hunderts, war ein männliches Konzept. Frauen, die Künstlerinnen werden und sein
wollten, mussten sich gewissermaßen neu erfinden, es mangelte an Vor- und Rol-
136 Vgl. Bernadette Reinhold, „Weibliche artistische Arbeitskräfte“ in spe – Frauenstudium an der
frühen Kunstgewerbeschule. Ein unbequemer Rückblick, in: Gerald Bast/Anja Seipenbusch-Huf-
schmied/Patrick Werkner (Hg.), 150 Jahre Universität für Angewandte Kunst Wien. Ästhetik der
Veränderung, Berlin, Boston 2017, 158–163.
137 Damit soll keine Perpetuierung der Abwertung von Textilkunst gegenüber anderen Kunstzweigen
stattfinden, sondern vielmehr auf die mangelnde Wahlmöglichkeit der Bauhausschülerinnen und
die nicht gleichberechtigte Anerkennung der als „weiblich“ eingestuften Kunstgewerbszweige im
Gegensatz zur „männlichen“ Kunst der Malerei oder Bildhauerei verwiesen werden.
138 Gunta Stölzl, Leiterin der (ausschließlich weiblich besetzten) Textilklasse des Bauhauses bezeich-
nete die Bildweberei als „ausdruck des seelischen erlebens“ und formulierte 1926: „Die Weberei ist
vor allem Arbeitsgebiet der Frau. Das Spiel mit Form und Farbe, gesteigertes Materialempfinden,
starke Einfühlungs- und Anpassungsfähigkeiten, ein mehr rhythmisches als logisches Denken sind
allgemeine Anlagen des weiblichen Charakters, der besonders befähigt ist, auf dem textilen Gebiet
Schöpferisches zu leisten.“ Zit. nach Silke Tammen, „Seelenkomplexe“ und „Ekeltechniken“ – von
den Problemen der Kunstkritik und Kunstgeschichte mit der „Handarbeit“, in: Anja Zimmermann
(Hg.), Kunstgeschichte und Gender. Eine Einführung, Berlin 2006, 215–239, 225. Insbesondere in
ihren späteren Lebensjahren fertigte auch Margret Bilger Textilarbeiten. Vgl dazu Peter Assmann/
Melchior Frommel (Hg.), Margret Bilger. Das malerische Werk. Ausstellungskatalog Landesgalerie
Oberösterreich, Weitra, Linz 1996, 279–300.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463