Seite - 223 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 223
mögliche machen, das sie erst nicht befriedigt. Ich denke daran, doch einen Pflegekurs
oder so was zu machen. Künstlerisch zu arbeiten werde ich nie aufhören, es muß dann
eben nebenher sein. […] Ich denke an alles, nur an heiraten nicht, ich verlange wohl nichts
als Lieb, das andere ist mir gleich u. sollt ich zugrunde gehen […] Ich wollt, ich wär ein
Mann. Mit mehr Energie würd ich auch aufbauen, weiter greifen u. dann beherrschen
wollen, aber ich bin nur ein Mädel, das nichts als reine große Lieb will u. ohne ihr kein
Leben findet.“141
Das „unauflösliche Zerrissensein“, das vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren
Bilgers Suche nach einem sinnstiftenden Lebensweg dominierte, bezeichnete Petra
Maria Dallinger in einem Beitrag über die Künstlerin „als eine der zentralen Er-
fahrungen weiblicher Schaffensbedingungen“.142 Während der (männliche) Künst-
ler egoistisch, selbstbezogen, rücksichtslos und nur seiner Kunst verpflichtet leben
sollte/musste/durfte, bezog sich die zeitgenössische Weiblichkeitskonstruktion auf
diametral dazu stehende Wesens- und Charakterzüge, die von Fürsorge, Aufopfe-
rung und Anteilnahme bestimmt waren. Wie sollte diese Polarität innerhalb einer
Identität verbunden werden? Um wieder ein Beispiel außerhalb der hier analy-
sierten Biographien anzuführen: 1923 notierte die Wiener Kunsthistorikerin und
Schriftstellerin Erica Tietze-Conrat in ihrem Tagebuch: 143
„Wir [Anm.: Erica Tietze und der Maler Georg Ehrlich144] haben lange u. sehr sehr klar
miteinander gesprochen. Jeder Mensch der ein hohes Ziel hat u. es verfolgt, mit Scheu-
klappen verfolgt ist schön. Wenn er auch einsam u. Egoist sein muß. Ich bin ganz anders.
Viel breiter und tiefer im Blut. Ganz im Mann, dem ich was sein kann u. will, weil ich ihn
immer noch lieb hab – u. ganz in den Kindern. So wie ich erst Frau, Mutter und dann erst
Kunsthistorikerin war so bin ich auch jetzt der viel- u. tiefverzweigte Mensch – und dann
Dichterin.“145
141 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Wien 3.11.1925.
142 Petra-Maria Dallinger, „Wenn ich ein Mann wäre, was täte ich da alles!“ Margret Bilger, Vilma Eckl
und Johanna Dorn, in: Martin Hochleitner (Hg.), Oberösterreich. Bildende Kunst 1945–1955, Linz
1995, 77–91, 77.
143 Zu Biographie und Werk der Kunsthistorikerin Erica Tietze-Conrat (1883–1958) vgl. Alexandra
Caruso (Hg.), Erica Tietze-Conrat. Tagebücher, 3 Bde., Wien 2015; Almut Krapf-Weiler (Hg.),
Erica Tietze-Conrat. Die Frau in der Kunstwissenschaft. Texte 1906–1958, Wien o. J. (2007). Das
Porträt „Ehepaar Hans und Erica Tietze“ von 1909 zählt zu den frühen Porträtwerken Oskar Ko-
koschkas.
144 Georg Ehrlich (Wien 1897–1966 Luzern), österr. Maler, Absolvent der Wiener Kunstgewerbe-
schule, wo er wie Erika Giovanna Klien Schüler von Franz Čižek war.
145 Zit. nach Caruso (Hg.), Erica Tietze-Conrat. Tagebücher, Bd. 1, 88 (Eintrag 15.8.1923).
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463