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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 225
intensiven politischen Instrumentalisierung dieser Geschlechterordnung.148 Bilgers
Aussagen und Vorstellungen stimmen in der Diktion vollkommen überein mit den
ideologischen Vorgaben einer christlichsozial-dominierten Gesellschaft. Auch der
Wunsch Bilgers sich in der Fürsorge, speziell in der Betreuung von kranken oder
vernachlässigten Kindern, zu engagieren, deckte sich mit einem weiblichen Ideal-
bild, wie es von Seiten der Kirche, der Christlichsozialen und schließlich der Vater-
ländischen Front in Österreich vertreten wurde.
Eine besondere Nähe zum katholisch autoritären Ständestaat wies Bilger, die viel
stärker im deutschnationalen Milieu der Wandervogelbewegung und ihrer Her-
kunftsfamilie sozialisiert war, aber nicht auf. Die Geschlechterkonzepte in den sonst
unterschiedlichen politischen Ideologien waren allerdings höchst kohärent. So wa-
ren die christlichsozialen Mütterlichkeitsideale, gerade auch in der Arbeit mit Kin-
dern, auch tief in der Wandervogelbewegung verankert, wie eine Zeitgenossin und
Wandervogelkollegin Margret Bilgers rückblickend erinnert:
„Wir hatten ja in unseren Jugendjahren es als inneren Auftrag empfunden, die überströ-
mende Freude, die Lebendigkeit, das Glück, hinaus ins Volk, insbesondere zu den Kin-
dern zu tragen. (…) Oft fingen wir uns die Kinder eines Dorfes, oder wo man sie traf
einfach zusammen, wie der Rattenfänger, oder gingen zu bäuerlichen Volksfesten und
erweckten immer große Freude und Begeisterung.“149
Immer wieder zog es Bilger in ihren Jugendjahren zur Kinder- und Krankenpflege,
bis in die 1930er-Jahre hinein hielt sie an der Idee eines sozial orientierten und/oder
pädagogischen Berufswegs fest. Vor bzw. während ihres Studiums an der Wiener
Kunstgewerbeschule arbeitete sie jeden Sommer mit Kindern: zunächst im Som-
mer 1924 als Pflegerin in einem Erholungsheim auf der Stolzalpe,150 ab 1926 in ei-
nem Kinderheim in Nussdorf bei Wien,151 wo sie auch wohnte und auch während
148 Vgl. Irene Bandhauer-Schöffmann, Der „Christliche Ständestaat“ als Männerstaat? Frauen- und
Geschlechterpolitik im Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos (Hg.), Austrofaschismus. Politik,
Ökonomie, Kultur, 1933–1938, Wien 2005, 254–280; Birgit Kirchmayr, „…Und das Ideale ist die
Frau und Mutter“. Austrofaschistische Frauenpolitik und weibliche Erinnerung, Diplomarbeit,
Salzburg 1996.
149 Bilger-Archiv, Anni Gamerith an Melchior Frommel, Graz 15.1.1972 (Brief mit Erinnerungen an
den Grazer Wandervogel, dem die Autorin zur selben Zeit wie Margret Bilger angehörte).
150 1920 wurde auf der Stolzalpe bei Murau in der Steiermark ein Erholungsheim für tuberkulose-
kranke Kinder eingerichtet. Zur Geschichte des Hauses, in dem sich heute ein Landeskrankenhaus
befindet, vgl. http://www.lkh-murtal.at/cms/beitrag/10306019/5928856 (2.9.2019).
151 Geleitet von Maritta Mayer, Nußberggasse 14, 19. Wiener Gemeindebezirk. Vgl. Adolph Lehmann’s
allgemeiner Wohnungs-Anzeiger: nebst Handels- u. Gewerbe-Adressbuch für d. k.
k. Reichshaupt-
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463