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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse226
des Studienjahres aushalf. Eine Beschreibung ihrer damaligen Arbeits- und Woh-
nungsgeberin Maritta Mayer in einem Brief an Bilgers Mutter, in Sorge über Bilgers
Lebenswandel verfasst, verweist auf die scheinbar unterschiedlichen Seiten einer
gleichzeitig ungebunden-freiheitsliebenden und fürsorglich-gütigen jungen Frau.152
1929 trat Bilger eine Stelle als Verkäuferin bei der Wiener Werkstätte an. Zwei-
fellos hatte sie erhofft, davon künstlerisch profitieren zu können, was sich aber als
Trugschluss herausstellte. Gesucht war keine Künstlerin, sondern eine hübsch an-
zusehende Verkäuferin – was Bilger massiv widerstrebte, wie die Berichte an ihre
Eltern belegen. Anfangs hieß es noch hoffnungsvoll:
„Alles war hochelegant u. sie [Anm.: Frau Direktor Jahn]153 meinte ich solle ein Probe-
monat machen wo ich neben den anderen Damen arbeite. […] Aufgefallen ist mir daß
der Direktor gar nicht wußte, daß ich in Wien auf der Schule war. Auch nicht Arbeiten
noch Zeugnis sehen wollte. Email aber interessierte sie am meisten, da möchte ich gern
was zeigen.“154
Zwei Monate später, im Dezember 1929, war noch nicht entschieden, ob aus der
Probeanstellung etwas Fixes werden könnte, und Bilger war über ihre Stellung zu-
nehmend frustriert.
„Mich reibt das Nichtwissen ob ich bleib jetzt ganz auf. […] die brauchen elegante freund-
lich mondäne Blümchen. Wenn ich nur wüßt ob ich bleib. Es ist so unsagbar demütigend,
so nach jeder Kundschaft zu schnappen.“155
u. Residenzstadt Wien u. Umgebung. Wien, 1928, abrufbar unter: http://www.digital.wienbiblio-
thek.at/wbrobv/periodical/titleinfo/5311 (2.9.2019)
152 Im Wortlaut des Briefes heißt es: „Nun ist Gretl in manchen ihrer Gewohnheiten absonderlich,
sagen wir die genug häufigen Besuche ihrer verschiedenen Freunde, ihr recht ungebundenes, ziem-
lich hemmungsloses Leben das so gar nicht in das Haus paßt. […] Gretl ist mir nach wie vor lieb.
[…] Ihre menschliche Güte zu allen Menschen einerseits ihre unerschöpfliche Kraft allen Unbilden
des materiellen Lebens stand zu halten andererseits läßt mich Gretl als Mitmenschen ungeheuer
hoch einschätzen.“ Bilger-Archiv, Maritta Mayer an Margaretha Bilger (Mutter), Wien 18.6.1929.
153 Vally Jahn, seit September 1929 gemeinsam mit Adolf Fischer als Geschäftsführerin der Wiener
Werkstätte tätig. In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten kam es zu häufigen Wechseln in der
Geschäftsführung der Wiener Werkstätte, bis das Unternehmen 1932 schließlich liquidiert wurde.
Vgl. Herta Arbeithuber, Die Wiener Werkstätte von 1903–1932. Ein Unternehmen im Spannungs-
feld zwischen künstlerischem Idealismus und wirtschaftlicher Pragmatik. Eine Chronologie der
Unternehmensgeschichte, Diplomarbeit Linz 1995.
154 Bilger-Archiv, MB an Margaretha und Ferdinand Bilger (Eltern), 23.10.1929.
155 Bilger-Archiv, MB an Irmtraut Bilger (Schwester), o. D. [Mitte Dezember 1929].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463