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Diskurse228
äußerliche Erscheinungsform mindestens so wichtig zu sein schien wie ihre berufli-
che Kompetenz. Äußerlichkeiten waren für Bilger nicht wichtig, als Anhängerin der
naturorientierten Wandervogelbewegung konnte sie mit der zeitgenössischen Form
weiblicher städtischer „Adrettheit“ wenig anfangen.157
Die Stellung bei der Wiener Werkstätte behielt sie lediglich aus finanzieller Not-
wendigkeit, im April 1930 wurde Bilger im Zuge eines allgemeinen Stellenabbaus
gekündigt. Finanziell begab sie sich damit zwar wieder in die elterliche Abhängig-
keit, als Mensch und Künstlerin war sie aber glücklich über die wiedergewonnene
Freiheit.
Auch in ihren Beziehungen zu Männern, über die Bilger mit ihren Eltern in ei-
ner erstaunlichen Offenheit korrespondierte, hing sie einer starken Geschlechter-
Dichotomie an, in der sie für sich die Rolle der sich aufopfernden und gebenden
Frau vorgesehen hatte. Das Ideal einer schwärmerischen Liebe hatte sie bereits in
einer frühen Verehrung für ihre Hauslehrerin verfolgt,158 und auch ihre Liebesbe-
ziehungen zu Männern waren einem hochgesteckten, beinahe schon mythisierten
Ideal einer tiefen, wahren und aufopferungsvollen Liebe verpflichtet. 1923 berich-
tete sie aus Stuttgart an die Mutter über ihre Liebe zu einem jungen Mann. In gro-
ßer Offenheit beschrieb sie körperliche Anziehung und Sehnsucht, um gleichzeitig
der Mutter aber auch mitzuteilen, klar sei, dass sie „rein bleiben müsste“.159 Aus der
Erzählung geht klar hervor, dass die aufrechterhaltene Keuschheit nicht einer ge-
sellschaftlichen oder religiösen Moral verpflichtet war, auch nicht einem Gehorsam
den Eltern gegenüber, sondern vielmehr ihren eigenen Idealen. Die in der Erzählung
verwendete Diktion ist geprägt von überhöhtem, schwärmerischem Vokabular und
dem bereits weiter oben beschriebenen Weiblichkeitsdiskurs, der der Polarität von
„Mutter/Hure“ eingeschrieben ist.
„Er war mein König u. Herr u. doch ein Page. Ich war allein bei ihm in seiner Klause, er
hätte so anders sein können, denn er hat mich mit allen Fasern seines Körpers u. Geistes
geliebt u. er tat nichts das ich nicht wollte u. ich sagte daß ich rein bleiben müßte bis ich
reif wäre. So waren wir stark u. fühlten beide daß wahre Liebe Kraft ist. Aber Mutter wenn
157 Ihre äußere Erscheinung blieb zeitlebens vom Wandervogelstil beeinflusst: zeitlose, schlichte, kei-
nesfalls modische Bekleidung, oft Dirndlkleider, wurden zum äußeren Merkmal der Künstlerin.
Vgl. dazu auch Dallinger, „Wenn ich ein Mann wäre, was täte ich da alles!“, 81. Teile von Bilgers
Garderobe sind heute noch in ihrem als Museum geführten ehemaligen Wohnhaus in Taufkirchen
an der Pram aufbewahrt.
158 Vgl. einen undatierten Brief Bilgers (vermutlich 1917) an die Hauslehrerin Else Becht, in der sie
dieser ihre Liebe zu ihr gesteht. Bilger-Archiv.
159 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Stuttgart o. D. [Jänner 1923].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463