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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 229
ich gefühlt hätte daß ich schon reif wäre an Körper u. Geist ich wäre in der Nacht Dirne
geworden u. hätte mich als heiligste der Frauen gefühlt. Sein Sehnen war reif, rein u. maß-
los u. es wäre aber bei mir nicht wahrhaft gewesen, denn noch fühl ich ein starkes Ringen
in mir nach Einsamsein, reif u. rein werden. Ob ich je die Mutter seines Kinds werd? Auch
meine Sehnsucht ist maßlos, ich aber fühle daß Kraft nur in der härtesten Wahrheit ist.
Noch muß ich allein sein!“160
Eine Beziehung musste „heilig“ sein, und ob sie dazu – unter den hohen Vorstellun-
gen, die sie sich dafür abverlangte – bereit war, wusste sie noch länger nicht. Hinzu
kam die ökonomische Krisensituation, die das Eingehen dauerhafter Beziehungen
in jener Zeit massiv erschwerte. In Bezug auf eine mögliche Eheschließung mit ih-
rem Freund Walter Honeder161 im Jahr 1930 schrieb sie an die Eltern:
„Walter war sehr gegen Hirtenberg162, so wie alle die mir nahe stehen. Er möchte daß ich
ganz zu ihm komme später sobald er verdient. […] Ich weiß aber wie hemmend so eine
Geldsorgensache wirken kann, was ja eine Frau noch steigert, vorläufig ist es wichtig daß
ich noch allein meinen Weg finde.“163
1934 heiratete Bilger unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter, die sie zuvor monate-
lang gepflegt hatte, den Schuster Markus Kastl, von dem sie schwanger war. Die Hei-
rat mit einem Handwerker, einem Flickschuster, entsprach nicht den Konventionen
des bildungsbürgerlichen Elternhauses, aus dem Bilger stammte, und ihr Ehemann
hatte wohl auch wenig gemein mit den intellektuellen Künstlerfreunden. In Hinblick
auf ihre Ehe lobte Bilger in Briefen aber genau die Einfachheit und Distanz zum in-
tellektuellen Leben. Anlass der Heirat war aber zweifellos die Schwangerschaft. Am
18. März 1934 kam ihr Kind tot zur Welt, Bilger selbst schwebte nach der Geburt in
Lebensgefahr. An ihre Freundin und Künstlerkollegin Elisabeth Karlinsky schrieb
sie:
„Ich bin wieder gesund aber das Kind ist tot. liebe Liesl es hatte so einen schlafenden klei-
nen Mund. ich war 3 Wochen im Spital es war eine schwere Schwangerschaftsvergiftung
EKLAMPSIE nach zwei Tagen Bewußtlosigkeit kam ich zu mir im Kreißsaal kurz vor der
160 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Stuttgart o. D. [Jänner 1923].
161 Walter Honeder (1906–2006), Maler und Graphiker, Studienkollege Bilgers an der Kunstgewerbe-
schule.
162 Gemeint ist eine mögliche Anstellung als Erzieherin im Staatlichen Kindererziehungsheim Hirten-
berg in der Steiermark.
163 Bilger-Archiv, MB an Margaretha Bilger (Mutter), Taufkirchen o. D. [Herbst 1930].
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463