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3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts | 231
keit, ihre künstlerische Tätigkeit neben Ehe, Kindern und Haushalt weiterführen
zu können. Sie hatte nach ihrem Studium an der Wiener Kunstgewerbeschule und
einem Aufenthalt in New York und Paris den dänischen Schriftsteller Hans Scherfig
geheiratet und lebte mit Mann und Kindern in Dänemark. An ihre Freundin Marg-
ret Bilger schrieb sie 1937 nach der Geburt ihres zweiten Kindes:
„Am 29. Juli habe ich einen kleinen Buben bekommen, mit großen blauen Augen und
ganz dunkelblonden Schneckerln, die er noch immer hat. Aber seitdem bin ich fast immer
nur mit Windelwaschen und überhaupt immer in der Küche beschäftigt.“166
Und 1939 hieß es:
„Ich bin immer so viel im Haushalt und bei Hans, der schon bald ganz ganz schlecht sieht.
Er malt noch, aber lesen kann er nicht mehr und wenn er auf der Maschine schreibt muss
ich immer dabei sein – auch immer lesen, und die Zeitungen auch. [...] Für mich selbst
hab ich nicht so viel Zeit. [...] Oft hätte ich den Drang mich ganz zu vertiefen und dann
vielleicht was malen oder zeichnen. Aber da sind die Kinder und die haben ihr Recht.“167
Margret Bilger hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits nach Taufkirchen zurückge-
zogen, das Thema der Mütterlichkeit begleitete sie weiter, auch in ihrer Kunst. Und
auch wenn sich mittlerweile der Lebensweg klar entschieden hatte und Bilger im-
mer mehr als selbständige Künstlerin reüssieren konnte, ihr polares Geschlechter-
bild veränderte sich dadurch kaum. Die Vorstellung vom „männlichen“ Geist und
der „weiblichen“ Natur blieb in Bilger fest verankert. So schrieb sie 1943 an ihre
Schwester:
„es ist dieser lichte männliche Geist, der mir wohl tut, ich habe nichts davon – es zieht
mich wie alle Frauen zur Erde.“168
166 Bilger-Archiv, Elisabeth Karlinsky an MB, Oktober 1937, auch zit. in: Dallinger (Hg.), „Jetzt wo du
wieder weg fährst, weiß ich erst wie ich ganz allein bin“, 53 ff.
167 Bilger-Archiv, Elisabeth Karlinsky an MB, 27.10.1939.
168 Bilger-Archiv, MB an Irmtraut Bilger, [April] 1943.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463