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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 233
Aura des Automobils im Verschwinden begriffen, und der Nimbus einer das Auto
umgebenden geradezu panischen Angst wird allmählich in eine Fülle praktischer
Probleme verwandelt.“170 Die praktischen Probleme zeigten sich vor allem in den
Städten, wo die Zahl der Autos stieg und Regelungen des Verkehrsverhaltens unum-
gänglich wurden. Ampeln zogen in die Städte ein (1926 in Berlin und Wien) und
bildeten einen deutlichen Kontrast zu dem, wofür das Automobil gerade erst begon-
nen hatte zu stehen – nämlich „Schnelligkeit gepaart mit Freiheit“.171
Noch schneller als das Auto war das Flugzeug, das zudem den so lange unerfüll-
ten Menschheitstraum vom Fliegen erfüllte. Der Zugang zum Fliegen war allerdings
noch elitärer und teurer, das Phänomen Flugzeug konnten die meisten Menschen
in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nur von der Erde aus beobachtend wahrneh-
men. Das verhinderte aber nicht, dass das Flugzeug als Symbol grenzenloser Freiheit
und Modernität betrachtet wurde.172
Am stärksten geprägt von neuer Technologie und Mobilität waren die Städte, die
bereits im Zuge der ersten Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert massi-
ven Aufschwung erfahren hatten. Großstadtfaszination und Großstadtkritik gingen
dabei Hand in Hand mit dem allgemeinen Diskurs zwischen Fortschrittseuphorie
und Kulturpessimismus. Die Stadt wurde zur Angriffsfläche kulturkonservativer
Kritiker, die im „Moloch Großstadt“173 das Symbol für dekadente Moderne sahen.
Oswald Spengler sah in der Herausbildung von Großstädten das jeweilige Ende
zyklisch wiederkehrender kultureller Zivilisationen. Das Entstehen großer Städte
markiere jeweils den „geistigen Prozeß aller Spätzeiten“ und damit den Weg zum
Untergang:
„Weltstadt und Provinz – mit diesen Grundbegriffen jeder Zivilisation tritt ein ganz neues
Formproblem der Geschichte hervor, das wir Heutigen gerade durchleben, ohne es in sei-
ner ganzen Tragweite auch nur entfernt begriffen zu haben. Statt einer Welt eine Stadt, ein
Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt:
statt eines formvollen, mit der Erde verwachsenen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit,
der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftre-
tende Tatsachenmensch, irreligiös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung
gegen das Bauerntum […], also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende
170 Gumbrecht, 1926, 46.
171 Alexa Geisthövel, Das Auto, in: Geisthövel/ Knoch (Hg.), Orte der Moderne, 37–46, 44.
172 Detlef Siegfried, Das Flugzeug, in: Geisthövel/Knoch (Hg.), Orte der Moderne, 47–56.
173 Hildegard Châtellier, Moloch Großstadt, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Er-
innerungsorte, München 2003, 567–583.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463