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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse234
– was bedeutet das? Frankreich und England haben diesen Schritt vollzogen und Deutsch-
land ist im Begriff, ihn zu tun.“174
In den intensiven Diskurs um die Stadt im frühen 20. Jahrhundert waren auch die
Künste einbezogen. Einerseits zeigte sich die Kunst der Moderne selbst als „städti-
sche Erscheinung“, wie dies Peter Gay formulierte,175 als Strömung, die in den urba-
nen Zentren ihre intellektuellen Wurzeln hatte. Andererseits wurde die Stadt auch
zum Objekt der Auseinandersetzung in der modernen Kunst. Von allen avantgardis-
tischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts traten die italienischen Futuristen
als die kompromisslosesten Fortschrittsbefürworter auf. Filippo Tomaso Marinettis
futuristisches Manifest von 1909 war dabei nicht nur ein Manifest für Geschwindig-
keit und ein neues Zeitalter von Urbanität und Maschine, sondern auch ein Hymnus
auf Männlichkeit, Jugend und Krieg:
„Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert
hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre
schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das
auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake. […] Wir wer-
den die großen Menschenmengen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Auf-
ruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolutionen in
den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der
Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die ge-
fräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich
hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische
Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersu-
chenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den
Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleiten-
den Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu
klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.“176
Der Futurismus beeinflusste auch Franz Čižek und den von ihm geprägten Wie-
ner Kinetismus. Es ist daher naheliegend, dass sich bei der Čižek-Schülerin Erika
Giovanna Klien eine besonders intensive künstlerische Auseinandersetzung mit den
174 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 43 f.
175 Gay, Moderne, 39.
176 Filippo Tomaso Marinetti, Manifest des Futurismus, zit. nach: Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Fu-
turismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, 77 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463