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Diskurse238
Interpretation an, von denen hier eine im Mittelpunkt stehen soll: die Modernekri-
tik der „Anderen Seite“, auf die bereits zeitgenössische und mit Kubin befreundete
Autoren wie Oscar A.H. Schmitz oder Ernst Jünger verwiesen.186 In Anlehnung an
Clemens Ruthners Analyse der „Anderen Seite“ als „literarische Versuchsstation des
k.
u.
k. Weltuntergangs“187 möchte ich Kubins Traumreich, respektive dessen Haupt-
stadt Perle, als „Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung“ beschreiben.
Das Szenario, das Kubin für sein phantastisches Traumreich entwarf, führt zu-
rück in „sein“ oben beschriebenes Jahrhundert, jenes von 1770 bis 1870. Denn für
das geheimnisvolle Reich gelten spezielle Regeln, die die anbrechende Moderne de-
finitiv aussperren bzw. verweigern oder ignorieren. Von diesen Regeln erfährt der
Ich-Erzähler als künftiger Bewohner Perles schon zu Beginn der Geschichte. Ein
Gesandter Pateras, der ihm die Einladung ins Traumreich überbringt, klärt über
einige Grundbedingungen auf:
„Patera hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche im all-
gemeinen. Ich sage nochmals, gegen alles Fortschrittliche, namentlich auf wissenschaftli-
chem Gebiete. Bitte meine Worte hier möglichst buchstäblich aufzufassen, denn in ihnen
liegt der Hauptgedanke des Traumreiches. Das Reich wird durch eine Umfassungsmauer
von der Umwelt abgegrenzt und durch starke Werke gegen alle Überfälle geschützt. [...] Im
Traumreiche, der Freistätte für die mit der modernen Kultur Unzufriedenen, ist für alle
körperlichen Bedürfnisse gesorgt.“188
Kubin entwarf also ein Paradies für „die mit der modernen Kultur Unzufriedenen“,
in deren Kreis er sich zweifellos selbst mit einschloss. Wie ernst die Regeln des Aus-
schlusses „allen Fortschrittlichen“ gemeint sind, erfahren der Ich-Erzähler und seine
ihn ins Traumreich begleitende Ehefrau bereits bei der Einreise. Nach einer langen
und topographisch sehr konkret beschriebenen Reise (von München über Budapest
ans Schwarze Meer und von dort in den zentralasiatischen Raum) werden die bei-
mit dem Wort Pater-Vater, dessen sich die psychoanalytische Kritik in ihrer Zeitschrift ‚Imago‘
bei meinem Buch später interessant bediente.“ AK an František Holešovský, 29.3.1944, zit. nach
František Holešovský, Alfred Kubin und die tschechische Kunst. Ein Briefwechsel aus den Jahren
1942 bis 1951, Linz 1983, 93.
186 Vgl. Ernst Jünger, Die Staubdämonen [1931], in: Ernst Jünger/Alfred Kubin, Eine Begegnung,
Frankfurt am Main 1975, 111–117; Oscar A.H. Schmitz, Brevier für Einsame. Fingerzeige zu
neuem Leben, München 1923.
187 Dies in Anspielung auf Karl Kraus‘ berühmtes Diktum von der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie als „Experimentierstation des Weltuntergangs“ (Die Fackel, 14.7.1914). Vgl. Ruthner,
Traum(kolonial)reich.
188 Kubin, Die andere Seite, 11.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463