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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 241
Traumreich verbringt das Paar in einem Hotelzimmer. Die Beschreibung des Interi-
eurs verweist in die 1860er-Jahre:
„Das Hotel war nicht ersten Ranges, aber halbwegs sauber und gemütlich. Ich ließ Tee
aufs Zimmer bringen. Es war geräumig und recht nett eingerichtet. Ein bißchen zusam-
mengekauft sah das Mobiliar allerdings aus. Über dem Ledersofa hing ein großes Bild
Maximilians, des Kaisers von Mexiko, über den Betten hing Benedek, der Unglückliche
von Königgrätz. ‚Wie kommt denn der hierher?‘ konnte ich mir nicht versagen, das Stu-
benmädchen zu fragen.“196
Clemens Ruthner sieht – im Gesamtkontext seiner überzeugenden Interpretation
des Traumreichs als „k. u. k. Staatsallegorie“ – in der Erwähnung der Schlacht von
Königgrätz (1866) ein weiteres Indiz für die symbolische Bedeutung, die die 1860er-
Jahre im Roman einnehmen: „Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass damit auf
eine symbolische Zeitgrenze im kulturellen Gedächtnis Zentraleuropas angespielt
wird. Gemeint ist hier wohl das Eckdatum 1866/67 (und insgeheim auch 1848), also
die Imagination eines intakten biedermeierlichen bzw. neoabsolutistischen Öster-
reich, das noch nicht seine entscheidenden außenpolitischen Niederlagen erlitten
hat.“197 Auf die Bedeutung von Königgrätz als symbolische Zeitgrenze verwies be-
reits zeitgenössisch Kubins Schwager und Freund Oscar A. H. Schmitz:
„Hercules Bell ist der moderne Mensch, der seit 1866 bei uns zu triumphieren begann,
jenem Grenzjahr zwischen dem alten traumhaft geistigen Europa, das letzten Endes in
Asien wurzelte, und der grellen amerikanischen Zivilisation der sich besonders der Sieger
von Königgrätz verschrieb, während der glücklichere Besiegte das alte Märchen noch bis
1918 zu spinnen vermochte, um jetzt freilich in der Art Perles darin zu verwesen.“198
Wie auch Schmitz‘ Interpretation aufzeigt, sind die beiden Schlüsselfiguren Patera
und Bell als jeweilige Verkörperungen einer traditionalistischen, offenbar dem Un-
tergang geweihten europäischen (habsburgischen) Antimoderne und einer (schein-
bar) die Zukunft verkörpernden, amerikanisch konnotierten Moderne zu sehen.
196 Kubin, Die andere Seite, 53.
197 Ruthner, Traum(kolonial)reich, 95. Hanns Sachs führt in seiner zeitgenössischen Rezension des
Romans vielmehr eine klassisch-freudianische Begründung für die „Zeitreise“ in die 1860er an:
Diese seien der Zeitraum gewesen, in dem sich Kubins Eltern vermählten, mit der Korrektur der
Zeit könne Kubin den heimlichen ödipalen Wunsch der Knabenseele nachkommen, sich mit der
Mutter zu verheiraten. Vgl. Sachs, Die andere Seite.
198 Schmitz, Brevier für Einsame, 128 u. 131.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463