Seite - 242 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 242 -
Text der Seite - 242 -
| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse242
Die Moderne respektive Antimoderne zeigt sich dabei nicht nur im Gegenständ-
lich-Objekthaften (wie der Kleidung, der Verwendung technischer Geräte oder der
Datierung von Kunstobjekten), es geht auch um eine politisch-ideologische Kon-
frontation. Pateras Widersacher, Herkules Bell, im Roman von den BewohnerIn-
nen des Traumreichs auch „der Amerikaner“ genannt, stammt aus Philadelphia.199
Als „Pökelfleischfabrikant“ und Milliardär ist er der Inbegriff des erfolgreichen,
unabhängigen und modernen Amerikaners. Mit Bells Einzug ins Traumreich wird
Patera herausgefordert, denn nachdem Bell erkennt, dass die Heilsversprechun-
gen des „Traumreichs“ nur Chimäre sind und der Staat vielmehr ein tyrannisches
Herrschaftssystem darstellt, versucht er die BewohnerInnen gegen ihren Herrscher
aufzuwiegeln: Moderne Demokratie (unterstützt vom Kapitalismus) wird einer au-
tokratischen Antimoderne gegenübergestellt. Herkules Bell bringt die Leute mit
dem Versprechen von Geld und Wohlstand auf seine Seite, er übernimmt die Presse
und damit die Meinungshoheit, er betreibt politische Agitation. In der Darstellung
Kubins erscheinen die von Bell hervorgerufenen demokratischen Forderungen und
Bewegungen als „Geister“, die der Amerikaner rief:
„Brachte er [Anm.: Herkules Bell, der Amerikaner] auch nicht alles auf seine Seite, auf
jeden Fall weckte er die Traumstädter zu einem politischen Leben; damit richtete er aber
mehr Unheil an, als vielleicht in seiner Absicht gelegen hatte. Vereinigungen und Grup-
pen schossen wie Pilze in die Höhe. Alle wollten etwas anderes: Wahlfreiheit, Kommunis-
mus, Einführung der Sklaverei, der freien Liebe, direkten Verkehr mit dem Ausland, noch
strengere Abschließung, keine Grenzüberwachung – die entgegengesetztesten Bestre-
bungen traten zutage. Religiöse Klubs bildeten sich, Katholiken, Juden, Mohammedaner,
Freigeister taten sich zusammen. Nach den verschiedensten Gesichtspunkten, politischen,
kommerziellen und höher geistigen, spalteten sich die Bewohner Perles in Gemeinschaf-
ten, die oft nur drei Personen zählten.”200
199 Inwieweit die Herkunft aus Philadelphia eventuell auch als Botschaft gelesen werden kann, muss
offenbleiben. Bislang wurde diesem Hintergrund nicht nachgegangen, denkbar erscheint aber doch
ein Zusammenhang in Bezug auf die in Philadelphia befindliche „Liberty Bell“. Als Glocke, die
zur Verlautbarung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 geläutet wurde, ist diese
symbolisch aufgeladen und steht für Freiheit und Demokratie. Der Name von Pateras Widersa-
cher, Herkules Bell, wurde bislang gelegentlich mit dem Erfinder des Telefons, Alexander Graham
Bell, in Verbindung gebracht, m. E. nicht auszuschließen ist aber auch der Bezug zu Philadelphias
Liberty „Bell“. Dank an dieser Stelle an Marcus Gräser für den interessanten Hinweis!
200 Kubin, Die andere Seite, 166 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463