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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse246
ben, die Bewegung gewonnen werden. Die Bewegung der Objekte: Erdbeben, Sturm, das
rollende Rad. Dann unsere Bewegung durch die Objekte (die sich auch bewegen können)
hindurch: die Fahrt durch die Straßen mit eilenden Menschen. Wir kommen also zuerst
zur Wiedergabe des rhythmischen Ablaufes einer Bewegung. Weiters zur Häufung von
Bewegungseindrücken. Schließlich zur Vereinigung beider.“209
Rochowanski schloss seine Hymne auf den Kinetismus mit einer Absage an den
zeitgenössischen Kulturpessimismus:
„Bedauernswert sind die Leute, die immer klagen, daß sie gerade in eine so traurige Zeit
hineingeboren wurden. Das sind natürlich die, die nur ans Essen denken und nicht gern
arbeiten. Wir leben in der schönsten Zeit, in einem stürmischen Drang, in einem beglü-
ckenden Kampf, wir sind keine Pensionisten müder Tage, wir sind gerufen zur Tat, zur
Neubelebung, wir schreiten über Tod und Verkündigung zur Auferstehung, wir sind nicht
verurteilt zum toten Leben in anderen, wir dürfen endlich wir selbst sein!“210
Dies kann auch als Kliens Credo aufgefasst werden. Schon in ihrer Wiener Zeit wa-
ren ihre Werke vom Motiv der Bewegung, der Dynamik geprägt. Ihr Gemälde „Die
Lokomotive“ von 1926 stellt sowohl mit dem Motiv – die Lokomotive als Leitobjekt
für Beschleunigung und Geschwindigkeit – als auch mit der Darstellung der dyna-
mischen Bewegungsabläufe ein geradezu ikonisches „Bild der Zeit“ dar.211
Auch das Thema der Stadt prägte ihr Werk. 1923 entstand ein siebenteiliger Fries
mit dem Titel „Gang durch die Großstadt“, neben Großstadtsymbolen wie Wolken-
kratzern und Brückenkonstruktionen finden sich darauf als Schriftelemente Signal-
wörter der Moderne wie „Bar“ oder „Kino“.212 Das Thema der Stadt stand auch im
Mittelpunkt eines Dramas, das Klien für ihr „Kinetisches Marionettentheater“ ver-
fasste.213
209 Leopold Rochowanski, Formwille der Zeit, Wien 1922, zit. nach Bernhard Leitner (Hg.), Erika
Giovanna Klien. Wien New York 1900–1957, Ostfildern-Ruit 2001, 22–26, 24.
210 Rochowanski, Formwille der Zeit, 26.
211 Erika Giovanna Kliens „Lokomotive“ (1926) zählt heute zu den Hauptwerken des Wiener Kinetis-
mus und ist regelmäßig auf Ausstellungen zur Kunst der Zwischenkriegszeit zu sehen, zuletzt in
der Schau Wien-Berlin. Kunst zweier Metropolen, 2014. 2015 wurde das Bild bei Sotheby’s London
versteigert. Vgl. http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2015/impressionist-modern-
art-evening-sale-l15006/lot.25.html (2.9.2019).
212 Vgl. die Darstellung des Werks in Kos (Hg.), Kampf um die Stadt, 290 f.
213 L.
W Rochowanski, Das kinetische Marionetten-Theater der E.
G. Klien, in: Die neue Schaubühne,
Berlin 1925, Heft 1, Nachdruck in: Leitner (Hg.), Erika Giovanna Klien, 60.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463