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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 251
viele Leute mit geschwärzten Gesichtern aus dieser fürchterlichen Unterwelt heraufkom-
men – auch das ‚Holland Tunnel‘ war unheimlich genug – 7 Minuten in schnellster Fahrt
durch einen schmalen Gang – es war sonderbar – wie nicht nur ich – auch die anderen
Leute (gleichgiltige New-Yorker) unruhig und nervös wurden – ich war etwas mehr als
nervös – ich hatte Angst – als ich nichts mehr sah als Kacheln – glänzendgelbe Kacheln –
ein Licht – eine Rettungsstiege – die – wie ich mir vorstelle – zu einer Brücke hinaufführt –
große Luftrohrmündungen – rasende Autos von der Gegenrichtung – ich atmete auf – als
wir endlich in New Jersey landeten – Kräne – Schiffe – Fabriken – unendliche Materialla-
ger – in der Ferne die Wolkenkratzer New Yorks – später dann die typische amerikanische
Landschaft – Ebene mit hohem schilfartigen Präriegras bewachsen – durch die Ebene
viele Linien: die Straße – die Bahn – Thelegrafenleitungen – Riesenwasserrohre – sonst
nichts – kein Baum – manchmal ein felsiger Hügel – Ecke Bloomfield Av. Grovestreet
erwartete mich Misses Green in ihrem Auto und brachte mich zu der Schule – wo ich
unterrichte – ich bekomme für 2 Stunden 8 dollar – die Fahrt wird mir natürlich auch
gezahlt – die Heimfahrt in der kurzen Dämmerung war wunderbar – zuletzt Nacht – ein
Chaos von Lichtern – wieder der Tunnel – plötzlich mitten in New York“222
Die faszinierende Erfahrung mit der Tunneltechnik wich bald der pragmatischen
Entscheidung gegen den Unterricht in Montclair, der Klien nur wenige Dollar ein-
brachte, mit der Fahrt aber fast einen ganzen Tag Zeit kostete. Ihr Überlebensalltag
zwang sie dazu, an mehreren Schulen und Orten parallel zu unterrichten, womit
auch das Zurücklegen langer Wege verbunden war. Kosten-Nutzen-Rechnungen
waren nötig, ebenso wie die Suche nach der optimalen Route. Solcherart Mühsal des
Großstadtlebens wurde für Klien immer quälender, seltene Landaufenthalte genoss
sie umso mehr. Von einem Wochenendausflug im April 1930 schrieb sie der Mutter:
„ich sehe jetzt – daß ich erst einen ganz kleinen Teil von New-York kenne – der mir doch
so riesenhaft erschien – es geht über alle meine Begriffe – die Größe dieser Stadt New-
York – Montag früh muß ich leider wieder nach New-York zurück – in dieses staubige
lärmende Chaos von Stein-Beton-Eisen-Subway und bussiness (Geschäft)“223
zurück. Nach einem Aufenthalt in Paris übersiedelte sie nach Dänemark, wo sie den Schriftsteller
Hans Scherfig heiratete. Vgl. Universität für angewandte Kunst Wien (UAK), Archiv, NL Elisabeth
Karlinsky sowie Dallinger (Hg.), „Jetzt wo du wieder weg fährst, weiß ich erst wie ich ganz allein
bin“.
222 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, New York Februar 1930. Anm.: Die nicht korrekte
Schreibweise von Montclair sowie weitere orthographische oder grammatikalische Fehler in der
Quelle wurden belassen.
223 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, Croton-on-Hudson 12.4.1930.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463